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Grundpfeiler des freien Staates

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In der „Wiener Zeitung“ vom 11. März 1862 wurde der Wortlaut eines Gesetzes publiziert, das — wie kaum ein anderes — durch ein Jahrhundert das Leben der Bürger in den kleinsten territorialen Gemeinschaften des Staates beeinflußt hat: das Reichsgemeindegesetz, erlassen auf allerhöchste Anordnung Seiner Majestät, unter

Zustimmung beider Häuser des Reichsrates.

Für das damalige Europa war dieses Gesetz, das den Gemeinden die kommunale Selbstverwaltung gab, eine enorm fortschrittliche, Ja revolutionäre Regelung. Vor dem Provisorischen Gemeindegesetz 1849, der Grundentlastung und der Aufhebung der Patrimonalgerichtsbarkeit hatten zwar die Städte einige Privilegien — „Stadtluft macht frei“ —, doch die vielen kleinen Gemeinden waren zum Großteil den Grundherren auf Wohl und Wehe ausgeliefert. (Es gab damals im Gebiet des heutigen Österreich nur rund 40 Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern.) Aus der Wehr- und Schicksalsgemeinschaft der Gemeinden wurde nun ein Hort der Freiheit des einzelnen, wurde im Laufe der Jahrzehnte in der Tat die „Grundfeste des freien Staates“.

Es wäre falsch, zu glauben, daß mit dem Jahre 1862 das „goldene Zeitalter“ für die Gemeinden anbrach. Der Aufbau der Selbstverwaltung, die Widerstände verschiedener Adelskreise, die mit der Grundentlastung verbundenen Kosten legten den Gemeinden große Schwierigkeiten auf. Außerdem wurde durch einige Landesgesetze eine Reihe von Bestimmungen des Reichsgemeindegesetzes derogiert. Erst durch die Verfassung der Ersten Republik wurde die Autonomie der Gemeinden verfassungsrechtlich verankert. Seit dieser Regelung (1. Oktober 1925) können die Gemeinden wegen Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gemäß Art. 144 der Bundesverfassung den Verfassungsgerichtshof anrufen.

Im Jahre 1938 führte Hitler in Österreich das deutsche Gemeinderecht ein, die Gemeindeorgane wurden nunmehr ernannt, die Bürgermeister zu bloßen Verwaltungsbeamten degradiert. Eine ihrer großen Bewährungsproben legten die Gemeinden in den Tagen des Chaos, des Zusammenbruchs ab, als die Behörden erst wiederaufgebaut werden mußten und der „Instanzenzug“ vielfach beim Ortskommandanten der Besatzungsmacht endete. In dieser „gesetzlosen Zeit“ erwiesen sie sich als eine primäre Ordnungsmacht im Staate. Durch das Verfassungsüber-leitungsgesetz wurde den Gemeinden ihre frühere rechtliche Stellung wiedergegeben.

In jüngster Zeit hat es sich gezeigt, daß verschiedene Bestimmungen des Reichsgemeindegesetzes 1862 den heutigen Anforderungen nicht mehr gerecht werden können. Dies hat schließ-

lieh dazu geführt, daß Städte- und Gemeindebund einen Entwurf für eine Novellierung des Gemeinderechtes ausarbeiteten.

Auf Grund der Gemeinde-Verfassungsnovelle 1962 werden die Artikel 115 bis 120 der Bundesverfassung einer Neuformulierung unterzogen und als eigenes Hauptstück zusammengefaßt. In wesentlichen Punkten folgt die Novelle dem Reichsgemeindegesetz, so in dem Bestreben, eine echte Gemeindeautonomie herzustellen. In manchen Artikeln wurde daher nur eine den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen entsprechende Formulierung vorgenommen. Auch an der bestehenden Kompetenzverteilung wird nichts geändert; da« Gemeinderecht bleibt Landessache in Gesetzgebung und Vollziehung. Die Befürchtung, daß die Gemeinde zu „einem Staat im Staate“ werden könnte, ist daher unbegründet. Der eigene Wirkungsbereich umfaßt nach der Novelle neben allen Angelegenheiten der Privatwirtschaftsverwaltumg auch behördliche Angelegenheiten. Im eigenen Wirkungsbereich ist die Gemeinde nicht weisungsgebunden.

Völlig neu ist die Schaffung eineT Aufsichtsbehörde, die dann angerufen werden kann, wenn in einer Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches der Instanzenzug erschöpft ist. Die Aufsichtsbehörde hat bei Vorliegen einer Rechtswidrigkeit den Bescheid aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung an die Gemeinde zu verweisen (Art. 1193). In Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches hat die Gemeinde übrigens auch das Recht, selbständige Verordnungen zu erlassen sowie deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung zu erklären.

Im übertragenen Wirkungsbereich sind den Gemeinden die zur Besorgung der Angelegenheit notwendigen Mittel von Bund oder Land zur Verfügung zu stellen. (Hier wurde der schwachen Finanzlage mancher Gemeinden Rechnung getragen.)

Die Länder haben es bereits in der Diskussion um den Verfassungsentwurf abgelehnt, daß Gemeinden mit mindestens 20.000 Einwohnern ein Rechtsanspruch auf ein eigenes Statut eingeräumt werden soll. (Wels ist größer als St. Pölten und hat noch immer kein eigenes Statut!) Man hat sich schließlich dahingehend geeinigt, daß die Erhebung zur Statutarstadt auf Beantragung dann erfolgen soll, wenn keine Landesinteressen dagegenspre-chen. Allerdings kann auch der Bund ein „Veto“ einlegen. Diese Regelung bringt also keinen Fortschritt gegenüber der bisherigen Rechtslage.

Für die Wahlen in den Gemeinderat gilt analog zu den Nationalratsund Landtagswahlen das gleiche unmittelbare, geheime und persönliche Wahlrecht. Interessant ist, daß Personen, die sich noch nicht ein Jahr in der Gemeinde aufhalten, vom passiven und aktiven Wahlrecht ausgeschlossen werden können, falls ihr Aufenthalt in der Gemeinde offensichtlich nur vorübergehend ist.

Träger der autonomen Verwaltung sind der Bürgermeister, der Gemeindevorstand und der Stadtsenat. Die Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches werden vom Bürgermeister besorgt, der hier — je nach der Angelegenheit — Bund oder Land verantwortlich ist. Von großer Bedeutung ist, daß bei schuldhafter Gesetzesverletzung durch Nichtbefolgung einer Weisung das schuldtragende Organ wohl der Funktion enthoben werden kann, die Mitgliedschaft dieser Person zum Gemeinderat jedoch dadurch nicht berührt wird.

Eine Neuerung zugunsten der Gemeinden, die der Rechtssicherheit dient, ist auch die beabsichtigte Erweiterung der Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes, der nunmehr auf Antrag auch festzustellen hat, ob ein Akt der Vollziehung in den Wirkungsbereich des Bundes, der Länder oder in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden fällt.

Durch die verfassungsrechtliche Neuordnung des Gemeinderechtes soll auch der „Rechtssplitterung“, die auf diesem Gebiete stark fortgeschritten ist, einigermaßen Einhalt geboten werden. Dr. Karl Fritzer hat in seinem dreibändigen Werk „Das österreichische Gemeinderecht“ auf diese Gefahren hingewiesen. Bekanntlich findet man nicht nur in jedem Bundesland ein „anderes Gemeinderecht“ vor, sondern auch die Städte mit eigenem Statut weisen unterschiedliche Verfassungen auf.

Durch die Aufnahme einer Fülle von Normen in die Bundesverfassung wird man einen Schritt zur Vereinheitlichung tun können. Den zweiten Schritt in dieser Richtung zu gehen bleibt allerdings den Landtagen in Ausführung der Verfassung vorbehalten.

Durch das neue Gemeinderecht wird wohl die Stellung der territorialen Selbstverwaltungskörper in verschiedener Hinsicht verfassungsrechtlich verankert, von dem Recht auf entsprechende materielle Grundlage ist leider nicht die Rede. Es wird zwar auf das Finanzverfassungsgesetz, auf das eigene Vermögen verwiesen, die tatsächliche Beteiligung am Staatseinkommen bleibt jedoch nach wie vor der „Willkür“ von Bund und Ländern überlassen. Die einzige Garantie gegen eine übermäßige finanzielle Belastung der Gemeinden seitens der übergeordneten Gebietskörperschaften bietet die in Art. 117 (7) vorgesehene Regelung, nach der im übertragenen Wirkungsbereich den Gemeinden „die zur Besorgung dieser Aufgaben notwendigen Mittel“ sichergestellt werden müssen. In der Tat eine sehr vordringliche Maßnahme, wenn man weiß, daß in jüngster Zeit den Gemeinden immer mehr Aufgaben zugeschoben wurden!

Bürgermeister Dr. Tizian, Bregenz, einer der bedeutendsten Kommunalpolitiker Österreichs, forderte beim Europäischen Gemeindetag in Wien, daß der Staat den Gemeinden genügend Mittel zur Bewältigung ihrer Aufgaben sichern müßte. Ohne Sicherung der gemeindlichen Finanz-wirtsehaft kann die Autonomie zum leeren Schlagwort werden.

Der Finanzausgleich

Es steht außer Zweifel, daß die Gemeinden ihre Ausgaben von den eigenen, echten Einnahmen nicht bestreiten können. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen sie Mittel, die im wesentlichen durch Steuern und Abgaben beschafft werden. Die Aufteilung dieser Gelder erfolgt in unserer dreistufigen „Staatsgliederung“ (Bund, Länder, Gemeinden) durch den sogenannten Finanzausgleich, der durch das Bundesgesetz festgelegt wird. Dieser ist zwar auf den gesunden Grundsätzen der „verbundenen Steuerwirtschaft“ (gemeinschaftliche Bundesabgaben) und der Abgabenteilung aufgebaut, doch wirkt sich der abgestufte Bevölkerungsschlüssel für die Aufteilung der Ertragsanteile für die kleinen Gemeinden nachteilig aus.

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