Gruseln gegen die Angst

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Der Familienberater Jan-Uwe Rogge plädiert für das Ernstnehmen kindlicher Angsterfahrungen und präsentiert

Robert liegt am Abend im Bett und ist sehr stolz: Heute hat der Fünfjährige seine ersten Runden mit seinem Rad ohne Stützräder gedreht. Er freut sich auf den nächsten Morgen: dann wird er im Hof ausprobieren, ob er das Radfahren nicht über Nacht verlernt hat. Doch mitten in seine Phantasien rumpelt Donnergrollen, der Regen schlägt gegen das Fenster und noch bevor der Blitz aufleuchtet, hat sich Robert unter seiner Bettdecke verkrochen. Er fürchtet sich, sein Erfolgserlebnis zählt jetzt nicht mehr.

Die Gefühlswelt der Kinder gleicht einer Achterbahn: Momente des Glücks, der Zufriedenheit, des Sich-Sicher-Fühlens wechseln mit Trauer, Schmerz und Tränen. Die vierjährige Sabrina geht aus Angst im Kindergarten nicht auf die Toilette, zwei Mal schon ist ihr "ein kleines Malheur" passiert, das ist ihr zwar peinlich, aber immer noch lieber, als sich auf das fremde Klo zu setzen, das so bedrohlich gurgelt. Ob da nicht ein Vampir im Klo sitzt und nur darauf wartet, nach ihr zu greifen? Besorgte Mütter und Väter, Kindergartenpädagogen, Lehrerinnen und Lehrer haben dem bekannte Familienberater und Therapeuten Jan-Uwe Rogge immer wieder von den Ängsten ihrer Kinder erzählt. Oft entdecken sie keinen unmittelbaren Auslöser für die Angst. "Warum hat mein Kind Angst und wie kann ich ihm helfen", ist eine der am häufigsten gestellten Fragen.

Hilflose Erwachsene

Vielen sind die Angsterfahrungen ihrer Kinder fremd. Aussagen wie "Das geht doch vorbei" oder "Du musst doch da keine Angst haben" lassen die Kinder jedoch allein und dokumentieren vor allem die Hilflosigkeit der Erwachsenen. Es scheint also das Phänomen der Furcht der Erwachsenen vor den Ängsten ihrer Kinder zu existieren, weiß Rogge. Dagegen betont er die Bedeutung von Ängsten im Entwicklungsprozess der Kinder und motiviert Eltern dazu, die Gefühlsäußerungen der Kinder ernst zu nehmen und sich an die eigenen Angsterfahrungen zu erinnern. Vielleicht haben bereits die Eltern der Eltern mit "Sei kein Angsthase" versucht, starke Gefühle zum Schweigen zu bringen. Aber immer schon gab es Mütter, Väter, Großmütter und -väter, die die Kinder auf ihren Schoß nahmen und zu erzählen begannen: von finsteren, unheimlichen Häusern, vom Donnergrollen, von Blitzen, von Kobolden, Hexen und einem Kind, das Abenteuer besteht.

Jan-Uwe Rogge stöberte im Geschichtenschatz seiner eigenen Familie, begegnete seiner Großmutter Trinchen und deren Erinnerungen an ihre eigene Großmutter. Bei jedem schweren Gewitter vollzog sie für ihre Enkel - und wohl auch für sich selbst - das selbe Ritual: Sie versammelte die Kleinen um einen großen, runden Tisch, entzündete Kerzen und erzählte gruselige Geschichten. "Wir Kinder vergaßen dann das Gewitter, wir fühlten uns aufgehoben in der schummrigen Atmosphäre, unsere Ängste waren wie weggeblasen. Wir gruselten uns so sehr vor den Geschichten, dagegen kamen Blitz und Donner nicht an", erzählt Rogge im Gespräch mit der Furche. Dass diese weise Frau für alle Fälle zuvor die wichtigsten Papiere - sollte nun doch der Blitz einschlagen - eingesammelt hatte, dokumentiert neben aller Zuneigung auch ihren Realitätssinn. In seinem Buch holt ihr Nachfahre Jan-Uwe Rogge nun Mütter, Väter und andere Bezugspersonen der Kinder in seinen Ausführungen an einen symbolischen runden Tisch und erzählt davon, wie wichtig Ängste in der Entwicklung der Kinder sind. Ängste sollen nicht verschwinden oder gar schon präventiv am Auftauchen gehindert werden: sie haben ihre Bedeutung im kindlichen Wachstum.

"Die Geschichten handeln von entwicklungsbedingten Ängsten, jenen, die sich im kindlichen Lebenslauf herausbilden, das Kind eine Zeit lang begleiten, dann scheinbar verschwinden, um später mit verändertem Gesicht wieder aufzutauchen", beschreibt der Autor seine zehn Erzählungen, in denen Tiere, ein Pirat, der Räuber Hotzenplotz und natürlich auch Jan und Trinchen über ihre angstmachenden Erlebnisse reden.

Rogge bezieht klar Position: "Wer Kinder vor Ängsten schützt, liefert sie ihnen aus." Geschichten geben Kindern den Anstoß, ihre Ängste selbst zu verarbeiten. Erwachsene, die die kindlichen Fragen ernst nehmen, nicht vom Thema ablenken und keinesfalls beschwichtigen, begleiten die Angstverarbeitung und wachsen dabei selbst mit.

"Kinder erfinden Phantasiefiguren, unsichtbare Gestalten, die eine Zeit lang Begleiter sind, um dann wieder aus ihrer Welt zu verschwinden", gibt Rogge eine Beobachtung wieder, die Eltern machen, wenn ihre Tochter etwa ein weiteres Gedeck am Tisch für "Elmar" oder "Nissl", die unsichtbaren Freunde, fordert.

Ruheplätze für Geschichten

Es sind die im Buch poetisch beschriebenen "heilenden Kräfte" im Kind, die dazu führen, dass es Rituale liebt und zielsicher Wege zur Angstverarbeitung sucht. Entwicklung und Alltag von Kindern sind von Ritualen begleitet, weiß der Familienberater: dazu gehört die Körperhygiene, das Stillen im ersten Lebensjahr, später die Einschlafgewohnheiten mit Gutenachtgeschichten und Kuscheltier, aber auch Aggressionsrituale beim Raufen und Rangeln oder die Vorgabe von Zeitstrukturen in Kindergarten, Schule und Hort. Umso wichtiger sind Ruheplätze, Kuschelecken und Orte der Geborgenheit. Im Gespräch mit der Furche benennt Rogge die wichtigsten Rahmenbedingungen für das Erzählen als stützendes Ritual im Alltag der Kinder: "Es sollte in einem dem Kind vertrauten Raum und zu einer bestimmten Zeit - vielleicht vor dem Zubettgehen oder am späten Nachmittag - erzählt werden. Die Geschichten und ihre Wirkung leben von der Vertrautheit zwischen Erzähler und Kind, von der Ruhe und davon, dass sich das Ritual vom Alltag abhebt. Die Wiederholung gibt dem Kind Sicherheit. Aus den immer wiederkehrenden Ritualen des Erzählens entwickelt das Kind das Gefühl, Situationen kontrollieren zu können."

Wenn Kinder erfahren dürfen, dass Ängste ein Bestandteil des Lebens sind, schenken Eltern ihnen und sich nicht zuletzt auch die Chance, verborgene schöpferische Kräfte zu heben. Dann wird es möglich, dass der kleine Jan den Tod seiner Uroma Katharina mit einem rituellen Lied verarbeitet, das er ihr zusingt, während sie auf einer kleinen Wolke verschwindet: "Ich habe Omama gesehen. In den Wolken. Sie hat tschüss' gesagt."

Geschichten gegen Ängste

So helfen Sie Ihrem Kind. Von Jan-Uwe Rogge. Auf der beiliegenden Audio-CD liest der Autor die Geschichten selbst vor. Rowohlt Reinbek 2002, e 10,20, 95 S.

Vortrag und Lesung von Jan-Uwe Rogge am Mittwoch, 2. Oktober, 19 Uhr 30 im Bildungshaus St. Virgil/Salzburg. Kartenreservierungen am 1. und 2. Oktober von 8.30 bis 16.30 Uhr unter (0662) 65901-510.

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