sonnenfels - © Illustration: Wikipedia / Stich von Schleuen

Gut beraten statt bloß gehorchen

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Warum das Analysieren und das Einschätzen zum großen jüdischen Kulturerbe zählen und wie sich daraus immer wieder politische Talente entwickeln konnten. Und auch Antisemitismus entsteht. Eine Analyse.

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Warum das Analysieren und das Einschätzen zum großen jüdischen Kulturerbe zählen und wie sich daraus immer wieder politische Talente entwickeln konnten. Und auch Antisemitismus entsteht. Eine Analyse.

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„Wir Juden wissen nie, was der heutige Tag, was der morgige bringen wird. Daher haben wir stets gepackte Koffer griffbereit.“ Wovon hängt es in der jüdischen Schicksalsgemeinschaft ab, ob sich die gepackten Koffer gemeinsam mit ihren Besitzern auf die Reise hin zu einem neuen, einem sicheren Ort begeben? Von Analysen und Beratungen hinsichtlich der zu erwartenden politischen Entwicklungen. Fragen der Sicherheit entscheiden über das „Bleiben oder Gehen“ von Juden – seit Tausenden von Jahren.

Deutschland 1933, Hitlers Machtergreifung. Das antisemitische Programm von „Mein Kampf“ war bekannt, der Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert gesellschaftsprägend. Der judenfreundliche Franz Joseph I. akzeptierte im Reichstag der k. & k. Monarchie die „Antisemitenpartei“, die offiziell so hieß und entsprechend agierte.

„Wir Juden haben im Weltkrieg für das Deutschtum geblutet. Wir haben bewiesen, dass wir gute Deutsche sind! Das Land Goethes, Schillers, Beethovens begeht kein Verbrechen. Wir sind hier sicher!“ Wem die Flucht nicht gelang, der endete im Vernichtungslager – trotz des Bekenntnisses zum Deutschtum, trotz hoher Kriegsauszeichnungen ... falsch analysiert, falsch beraten, falsch entschieden. „Wenn wir Juden uns Emotionen erlauben, müssen wir dies meist bitter büßen“ – ein trauriges, weil zutreffendes Resümee. Die verheerenden Folgen dieser Fehleinschätzungen prägen das jüdische Sicherheitsbewusstsein bis heute.

Moses und Aaron

Das Analysieren, Einschätzen und Beraten ist seit Beginn der jüdischen Geschichte, seit dem biblischen Auszug aus Ägypten, ein unverzichtbarer Teil der Überlebensstrategie der jüdischen Schicksalsgemeinschaft. Ein neuer Gott versprach, die Juden aus der ägyptischen Knechtschaft zu führen und verlangte dafür absoluten Gehorsam. Der Pharao hatte begonnen, sich vor den zahlreichen Ethnien, die das altägyptische Wirtschaftswunder in das Land gelockt hatte, zu ängstigen, Unterdrückung drohte. Jüdisches Analysieren, Einschätzen, Beraten: Im Land bleiben, sich mit dem Pharao arrangieren? Relative Sicherheit, Gewohntes aufgeben zugunsten eines Aufbruchs ins Ungewisse? Und ein neuer Gott, den noch niemand gesehen hatte?

Bald nach dem Aufbruch in Richtung des vom unsichtbaren Gott versprochenen gelobten Landes lautstarke Forderungen nach Rückkehr zu den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Am vom verärgerten Gott strafweise auf 40 Jahre ausgedehnten, entbehrungsreichen Marsch durch die Wüs­te gewalttätige innere Zerwürfnisse und Auseinandersetzungen mit Fremden, letale göttliche Strafexpeditionen gegen Rebellen in den eigenen Reihen, zerbrochene Gesetzestafeln, Hunger und Durst, gar ein goldenes Kalb als Alternative zum eifersüchtigen, strafenden und unsichtbaren Gott. Analyse um Analyse, Beratung auf Beratung, Einschätzungen sonder Zahl – das CEO-Traumduo der Weltgeschichte, der geniale, aber stotternde Denker und Stratege Moses und sein Bruder Aron, der den Mitteilungen von Moses als hinreißender Kommunikator die Akzeptanz des Volkes verschaffte – sie waren gleichermaßen Analysten und Berater, leisteten Überzeugungsarbeit und trafen politische Entscheidungen!

Analysieren, Einschätzen, Beraten – dies ist der Kern nicht nur der jüdischen Geschichte, die eine Erzählung des Überlebens in einer meist feindlich gesinnten Umgebung ist, sondern auch der jüdischen Religion. Ist die Interpretation heiliger Texte in Christentum und Islam das Vorrecht von Theologen, so fordert das Judentum jede einzelne Person dazu auf, die heiligen Schriften zu lesen, diese zu analysieren (!), sie in Bezug auf die eigene Lebenssituation einzuschätzen (!) und sie gemeinsam mit anderen, insbesondere mit Andersdenkenden (!), zu diskutieren. Diese Art der individuellen Beschäftigung mit heiligen Texten ist im Judentum ein „Dauer-Auftrag“ – lebenslanges Lernen für alle! Eine berühmte Aufnahme des Fotografen Roman Vishiniac, der das jüdische Leben in Osteuropa vor dem Holocaust dokumentiert hat, zeigt jüdische Waldarbeiter, die Holzwerkzeuge und die Bibel tragen. Lesende Holzknechte – Analphabetismus ist im Judentum so gut wie unbekannt.

Die Professionalität israelischer Politikberater war bis zur Jahresmitte 2017 weitgehend unumstritten. Der Slogan zur Nationalratswahl 2006 „Hier fliegt Ihre Pensionserhöhung“ – eine Anspielung auf die teuren Eurofighter – ist gar zum Klassiker geworden. Im Ausland in strafrechtlichen Verdacht und damit in Österreich in die Kritik geraten ist Chefberater Tal Silberstein durch ein „Business“ abseits der Beratung.

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