Neisser - © Foto: Mirjam Reither

Heinrich Neisser: "Ich bin froh, dass die Ära Kurz vorüber ist"

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Heinrich Neisser, ehemaliger ÖVP-Klubchef und Zweiter Nationalratspräsident sowie Partei-Vordenker, über seine Bilanz der „Ära Kurz“, die Werte der ÖVP und den ewigen Streit um Dollfuß.

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Heinrich Neisser, ehemaliger ÖVP-Klubchef und Zweiter Nationalratspräsident sowie Partei-Vordenker, über seine Bilanz der „Ära Kurz“, die Werte der ÖVP und den ewigen Streit um Dollfuß.

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Knapp 2000 Seiten umfasst jene Festschrift, die Heinrich Neisser vergangenen März zu seinem 85. Geburtstag erhalten hat. „Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Solidarität in Österreich und in Europa“ lautet der Titel des Opus, in dem Neisser als „europäischer Humanist“ gewürdigt wird.

Tatsächlich hat der Jurist sowohl die Volkspartei wie auch die Republik mitgeprägt: als Staatssekretär unter Josef Klaus (1969 bis 1970), als Minister für Föderalismus und Verwaltungsreform unter Franz Vranitzky (1987 bis 1989), als ÖVP-Klubchef (1990 bis 1994) und Zweiter Nationalratspräsident (1994 bis 1999). Mit Schwarz-Blau unter Wolfgang Schüssel wechselte Neisser an die Uni Innsbruck, wo er sich fortan der europäischen Integration widmete, bis 2004 blieb er Präsident der Politischen Akademie. Unter Sebastian Kurz nahm die Entfremdung weiter zu: 2017 konzipierte er mit den Neos einen „Chancen-Plan“ für Europa, blieb aber ÖVP-Mitglied.

Was sieht er im Blick zurück? DIE FURCHE hat ihn besucht – und bringt das ausführliche Gespräch in zwei Folgen bzw. Podcasts.

DIE FURCHE: Herr Professor Neisser, wie würden Sie den aktuellen Zustand der ÖVP beschreiben?
Heinrich Neisser:
Er ist natürlich nicht erfreulich. Die Partei muss sich nicht nur die Frage stellen, wie sie die Corona-Krise löst, sondern auch, wie sie ihre eigene Zukunft gestaltet. Wobei sich die Volksparteien im allgemeinen in einer kritischen Situation befinden. Das sehen wir auch am Beispiel der CDU/CSU in Deutschland. Aber ich habe das Gefühl, dass man aus der jetzigen Situation doch etwas gelernt hat. Die jüngsten Auftritte der Verantwortungsträger, insbesondere des neuen Bundeskanzlers, haben mich doch etwas ermuntert. Offensichtlich sieht man doch, wo die Mängel waren – und ist bereit, einen anderen Weg zu gehen.

DIE FURCHE: Worin haben diese Mängel bestanden?
Neisser:
Wir haben in der Ära Kurz einen Politikstil erlebt, der zwar nach außen hin offensichtlich wirksam war – aber letztlich rein an der Oberfläche geblieben ist und keine substanzielle Kommunikation mehr möglich gemacht hat. Es würde unser Gespräch sprengen, über Sprache und Politik zu reden, aber der deutsche Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß hat vor Jahren geschrieben, dass es dem Wähler nicht mehr zumutbar sei, wenn man ihn nur noch mit Sprachfloskeln behandle. Und er hat dafür einen großartigen Ausdruck gefunden: nämlich „Fertigteilsprache“. Hier hat auch Sebastian Kurz eine negative Entwicklung herbeigeführt, weil diese Message Control, die natürlich Ausdruck einer autoritären Führung ist, dazu geführt hat, dass alle diesem Beispiel gefolgt sind. Nun habe ich die leise Hoffnung, dass sich das ändert, aber ich erlebe noch immer, dass man von dieser floskelhaften Fertigteilsprache nicht loskommt. Dabei ist Sprache doch Ausdruck persönlicher Authentizität und Autorität! Dass man zuletzt auch nicht mehr erklären konnte, einen Fehler gemacht zu haben, ist ebenfalls ein Problem – aber ein anderes.

Man kann nicht sagen: Wir stehen auf dem Boden des Rechtsstaates – und dann namentlich Staatsanwälte attackieren.

DIE FURCHE: Es gibt unterschiedliche Interpretationen des Endes der „Ära Kurz“. Ist Kurz gescheitert? Oder wurde er „abgeschossen“, wie Andreas Khol meinte – etwa von der Opposition oder der WKStA?
Neisser:
Ich verstehe das Argument nicht, er sei „abgeschossen worden“. Es ist doch in einer Demokratie selbstverständlich, dass man versucht, den anderen herauszudrängen und sich selbst ins Spiel zu bringen. Dass diese Konkurrenz oft ausufert, das gebe ich gerne zu. Aber gegenüber der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Vorwürfe zu erheben, da muss man wirklich vorsichtig sein. Man kann nicht sagen: Wir stehen auf dem Boden des Rechtsstaates und achten die Gerichtsbarkeit – und zugleich namentlich Staatsanwälte attackieren und eine Diskussion beginnen, in der die WKStA ein Akteur in einer parteipolitischen Auseinandersetzung wird, die mit den Fragen einer unabhängigen Gerichtsbarkeit überhaupt nichts mehr zu tun hat! Dass es in der Justiz Rote und Schwarze gegeben hat, das ist nichts Neues, das war immer der Fall. In jeder Staatstätigkeit hat man auch die Freiheit, eine eigene politische Überzeugung zu haben. Wir haben diese Diskussion in früherer Zeit in ganz anderem Ausmaß schon gehabt: Justizminister Christian Broda (SPÖ, Anm.) hat man oft den Vorwurf gemacht, dass er eingreift, nur der hat ganz andere Wege gefunden.

DIE FURCHE: Was es unter Broda noch nicht gegeben hat, waren Handys. Viele kritisieren die Veröffentlichung der darauf bzw. in der Cloud gespeicherten „privaten“ Chats.
Neisser:
Auch das ist mir nicht verständlich. Dass die Chats an die Öffentlichkeit gekommen sind, geht zwar mit Problemen einher, die mit Datenschutz und Amtsgeheimnis etc. zusammenhängen. Aber ihr Inhalt wird nicht bestritten, und dieser wirft ein furchtbares Bild auf die Partei. Da hat sich in das politische Geschehen eine Art von Infantilismus eingeschlichen – und auch eine generelle Verrohung der Sprache. Hier wird in der Politik jenes Bild sichtbar, das Carl Schmitt als „das große Feindbild“ bezeichnet hat. Aber natürlich, die politischen Auseinandersetzungen waren in Österreich nie von besonderer Feinheit geprägt. Wir haben auch nie einen Parlamentarismus gehabt, der Bühne war für elegante Debatten.

Neisser - © Foto: Mirjam Reither
© Foto: Mirjam Reither

DIE FURCHE: Über den Parlamentarismus werden wir in der nächsten Ausgabe sprechen, kommen wir nochmals zur ÖVP: Die Macht der Länder zurückzudrängen, war eines der großen Ziele von Sebastian Kurz im Jahr 2017. War das nicht richtig? Bzw. hat sich nicht in der Pandemie die Schwäche des Föderalismus gezeigt?
Neisser:
Also ich sehe keine überzeugenden Argumente, den Föderalismus abzuschaffen, sondern eher Gründe für einen kooperativen Föderalismus. Wenn, wie in Oberösterreich, ein Landeswahlkampf die bundesweite Corona-Politik bestimmt, dann ist das natürlich fatal. Aber hier lag das Grundproblem eher darin, nicht erkannt zu haben, dass es Augenblicke gibt, in denen parteipolitisches Taktieren zurückgestellt werden muss und man aufs Gemeinsame schauen muss. Und genau das hat Karl Nehammer jetzt verkündet. Dass Kurz gescheitert ist, kann man ja auch darauf zurückführen, dass er nur auf Alleingänge gesetzt hat: Er wollte mit den Sozialpartnern keinen besonderen Kontakt, auch nicht mit den Bundesländern und dem Parlament. In der Krise hat er dann alle erst wieder hereinholen müssen. Bereits im März 2020 hätte man eine ständige Kommunikation zwischen den Ländern einsetzen müssen. Aber die hat schon in der Regierung nicht funktioniert, weil man den Gesundheitsminister einschränken wollte, damit der ganze Glanz auf der ÖVP-Seite liegt.

DIE FURCHE: Sebastian Kurz hatte zwar ein Durchgriffsrecht, trotzdem hätten die Länder realpolitisch immer mitgeredet, meinte Tirols Landeshauptmann Platter. Sollte man offiziell zurückkehren zum Status quo ante?
Neisser:
Persönlich bin ich froh, dass die Ära Kurz vorüber ist, weil sie der österreichischen Politik nicht gut getan hat. Aber dass man dann wieder die alten Zeiten als Vorbild nimmt, wäre völlig falsch. Ich würde hingegen eine grundsätzliche Statutenreform für überlegenswert halten und der ÖVP empfehlen, eine Grundsatzgruppe einzusetzen, die überlegt, wo man neue Wege gehen muss. Es geht dabei nicht nur um die föderale Struktur, sondern auch darum, ob die bündische Struktur noch adäquat ist. Ich verstehe, dass man Bauern und Wirtschaft vertreten will, beim Arbeitnehmerbegriff wird es schon schwieriger – all das müsste man diskutieren. Das wird nicht mitten in der Krise gehen, aber wenn die ÖVP das nicht löst, wird sie Probleme haben.

Man muss den Begriff ,Faschismus‘ definieren, wenn man von ,Austrofaschismus‘ spricht. Insofern finde ich den Begriff ,Kanzlerdiktatur‘ noch klarer.

DIE FURCHE: Die Struktur der Partei ist das eine, das andere sind ihre Werte. Welche sollten das sein?
Neisser:
Die katholische Soziallehre ist natürlich ein Kern der ÖVP, und der ÖAAB war lange Zeit der Fahnenträger. Aber auch hier geht es nicht darum, zu den geistigen Quellen tel quel zurückzukehren, sondern sie für heute zu adaptieren. Genau dieselbe Diskussion müsste die ÖVP über den Liberalismus führen, weil die Frage des Neoliberalismus und seiner Wirksamkeit nach wie vor im Raum steht. Sebastian Kurz hat ein modernes wirtschaftliches Leistungsdenken propagiert: Wer etwas leistet, der soll auch belohnt werden. Aber letztlich konnte ich ihm keine eigentlich weltanschauliche Ausrichtung entnehmen. Klar war, dass er einen Hang zur Selbstdarstellung hatte. Es ist ja kein Zufall, dass der Begriff der Inszenierung endgültig vom Theater in die Politik übergegangen ist. Das Hauptproblem dabei ist: Solche Politiker interessiert die Wirklichkeit nicht und auch die Wahrheit nicht – obzwar es problematisch ist, den Begriff der Wahrheit in der Politik als Argument einzubringen.

DIE FURCHE: Anhänger von Kurz würden erwidern, dass er sehrwohl inhaltliche Substanz hatte – etwa was die Familien- oder Migrationspolitik betrifft. Und vor allem: Er hatte Erfolg! Kann man gar nichts von ihm lernen?
Neisser:
Die Frage der Öffentlichkeitsarbeit, aber es bleibt für mich in diesem Bereich. Es gibt keine große Idee, die man ihm zuschreibt. Und zur Migration: Ich war auch hier nicht seiner Meinung. Meine Probleme mit Kurz wurzeln ja gerade darin, dass er einen Rechtsruck der ÖVP bewirkt hat – und man das Gefühl hatte, zwischen ihr und der FPÖ gibt es eine ideologische Einheit. Aber natürlich ist Asylpolitik ein europäisches Problem: Wir haben einen Unionsvertrag, in dem steht, dass Flüchtlingspolitik nach dem Prinzip der Solidarität erfolgt. Das ist alles weg!

Neisser - © Foto: Mirjam Reither
© Foto: Mirjam Reither

DIE FURCHE: Erwarten Sie hier von Karl Nehammer eine Änderung?
Neisser:
Die letzten Tage haben grundsätzlich einen Kurswechsel in Richtung Dialog angedeutet. Aber ja, seine Darbietung, als er als Innenminister österreichisches Gerät nach Lesbos brachte und meinte, man müsse vor Ort helfen, war furchtbar. Man hätte hier auch eine menschliche Geste setzen und zeigen können, dass einen das im Gewissen beschäftigt. Aber das ist nach Message Control serviert worden.

DIE FURCHE: Dafür ist derzeit eine andere Debatte ,out of control‘, nämlich der ewige Streit um Engelbert Dollfuß. Sie haben sich intensiv mit dem Jahr 1934 beschäftigt, u.a. 1971 mit Manfried Welan in „Der Bundeskanzler im österreichischen Verfassungsgefüge“. Waren Sie schon im vieldiskutierten Museum in Texingtal, wo der neue Innenminister, Gerhard Karner (ÖVP), Bürgermeister war?
Neisser:
Nein, aber ich kenne die Geschichte dieses Museums. Weil das das Geburtshaus von Dollfuß ist, hätte man hier natürlich eine Tafel hinhängen können. Aber das ist etwas ganz anderes, als das zu einer Art von Museum zu machen, wo Anhänger ihrem Erinnerungskult frönen können. Das ist natürlich nicht sehr geschickt. Ich habe auch selbst die Debatte im Parlament jahrelang erlebt. Bis in die 1980er Jahre haben Sie mit Zwischenrufen zum 1934er Jahr noch Sitzungsabbrüche provozieren können. Ich selbst habe 1975 mein Mandat bekommen und musste die ersten Wahlkämpfe im 15. Wiener Bezirk machen. Und wenn ich zu lange geredet habe, haben sie „Arbeitermörder“ geschrien. Umgekehrt hat wieder die ÖVP aufgeschrien, wenn die anderen „Austrofaschismus“ gesagt haben.

Ich bin froh, dass die Ära Kurz vorüber ist, weil sie Österreichs Politik nicht gut getan hat. Aber dass man wieder die alten Zeiten als Vorbild nimmt, ist falsch.

DIE FURCHE: Und Sie? Haben Sie ein Problem mit diesem von Emmerich Tálos geprägten Begriff?
Neisser:
Überhaupt nicht. Man muss aber den Begriff des Faschismus definieren, wenn man vom Austrofaschismus redet. Ich würde Dollfuß nicht mit Mussolini in eine Reihe stellen, der von Anfang an für Gewalt plädiert hat, um ein politisches System zu ändern – das war bei Dollfuß nicht der Fall. Der Faschismus im Nationalsozialismus war wiederum untrennbar verbunden mit der Schoa und Rassenpolitik. Insofern finde ich den Begriff „Kanzlerdiktatur“, wie ihn Helmut Wohnout geprägt hat, noch klarer. Aber ich halte die ganze jetzige Diskussion für eine künstliche und hochgespielte.

DIE FURCHE: Als Sie ÖVP-Klubchef waren, hing das Dollfuß-Bild noch im Klub, erst Sebastian Kurz hat es abhängen lassen. Wie das?
Neisser:
Wir haben innerhalb der ÖVP nie über Dollfuß diskutiert. Als ich dann 1990 Klubchef geworden bin, hat mich ein Journalist auf das Bild angesprochen und ich habe geantwortet, dass man sich zu seiner Vergangenheit bekennen muss – und mir selbst das Bild nichts bedeutet. Im Zuge des Parlament-Umbaus hat Kurz dann gemeint, es gäbe dafür in den neuen, kleineren Räumen keinen Platz mehr. Das war die dankbarste Lösung. Das hätte ich genauso gemacht wie er.

Im zweiten Teil des Gesprächs mit Heinrich Neisser geht es um Parlamentarismus, Demokratie und Europa. Nachzulesen in der nächsten FURCHE.

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