Hinter den Toren Wiens

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Am Brunnenmarkt wird vor allem Türkisch gesprochen, was nicht heißt, dass man über einen EU-Beitritt der Türkei nicht unterschiedlicher Meinung sein kann.

Teppichhändler Kemal versteht die Welt nicht mehr: Auf Seite eins der Kronenzeitung ist gestanden, dass die SPÖ gegen den EU-Beitritt der Türkei ist, obwohl "das die Sozialisten sind"; und die ÖVP ist dafür, "aber das sind doch Katholiken"? Kemal nimmt einen Teppich und legt ihn von einem Stoß auf den anderen. "Doch, die kommen alle aus der Türkei", antwortet der 26-Jährige und zeigt auf die Bergamas, Bursas, Karamans, Mosuls und Smyrnas an den Wänden und am Boden des Geschäfts am Wiener Brunnenmarkt. "Sehen Sie, Sie wissen auch nicht viel vom Reichtum der Türkei", beschuldigt Kemal sein Visavis: "Die meisten Menschen hier haben ein falsches Bild von der Türkei und den Türken."

Völlig falsches Türkei-Bild

Nicht einmal hier, am Brunnenmarkt in Ottakring, wo drei Viertel der Geschäfte und Marktstandeln türkisch sind, behauptet Kemal, bekomme man ein richtiges Bild von der heutigen Türkei. Die Türken in Österreich seien konservativer und religiöser als ihre Landsleute zu Hause, meint der Teppichhändler: "Die Jungen in der Türkei sind viel moderner und europäischer als die Türken, die jetzt schon im Westen leben." Selbstverständlich ist er für einen raschen EU-Beitritt seines Landes: Und auch die Union soll sich beeilen, meint er, denn "in zehn Jahren ist die Türkei so reich, dass sie gar nicht mehr beitreten will".

Das wäre ganz im Interesse von Schmuckverkäufer Kazim ein paar Türen weiter; anders als sein Nachbar hat er eine große Sorge: "Mit dem EU-Beitritt verliert die Türkei ihre kulturelle Identität." Am besten wäre es für ihn, "wenn alles so bleibt, wie es ist". Damit könnte auch der Gemüsehändler aus dem Kosovo am Marktstand gegenüber gut leben: "Zuviele Leute" mit einem "anderen Charakter" und einer "anderen Kultur", lauten seine Gegenargumente gegen eine Türkei in der EU.

41.000 Türken leben in Wien, 130.000 sind es in ganz Österreich. Weitere 30.000 Österreicher haben türkische Wurzeln. Im EU-Vergleich rangiert Österreich damit an vierter Stelle. Die meisten Einwohner türkischer Herkunft in der Europäischen Union hat mit 2,6 Millionen die Bundesrepublik Deutschland.

"Was hat Österreich vom EU-Beitritt profitieren können?", fragt Kemals Chef, als er in sein Teppichgeschäft zurückkommt. Alles sei teurer geworden, klagt der Geschäftsmann: "Ich frage mich, warum die Türkei da auch noch dabei sein soll?" - Sein Angestellter Kemal ist da um keine schnelle Antwort verlegen: "Weil ich mich als Europäer fühle, und weil ich wie ein Europäer lebe."

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