"Ich persönlich könnte nicht foltern"

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Die Furche: Herr Professor Merkel, viele sprechen von einer Wiederkehr der Werte. Sie behaupten, dass Werte als Grundlagen von Handlungsprinzipien untauglich seien. Was macht Sie so skeptisch?

Reinhard Merkel: Ich bin nicht gegenüber Werten im Allgemeinen skeptisch. In welcher Hinsicht ich Werte aber nicht für geeignet halte, ist die Funktion, Handlungsorientierungen da zu geben, wo sie einem üblicherweise fehlen. Natürlich gibt es Kollisionen von Werten, die ganz eindeutig zu lösen sind: Ich denke nur an den Fall Natascha Kampusch. Dass das Seelenleben der jungen Frau Vorrang hat gegenüber der Neugier der Öffentlichkeit, ist evident. Das ist aber keine wirklich schwierige Frage.

Die Furche: Was wäre eine wirklich schwierige Frage?

Merkel: Nehmen Sie den Libanon-Krieg und das Verhalten Israels; oder nehmen Sie die Dauerthemen in unseren Gesellschaften - von der Sterbehilfe über die Embryonenforschung und die Abtreibung bis hin zu neuen Fragen wie Interventionen ins Gehirn als "mind doping". Darf man das alles? Hier nützen uns Werte wenig. Nicht, dass wir keine Werte hätten. Wir wissen nur nicht, wie wir die Konflikte lösen.

Die Furche: Wenn Werte hier nicht weiterhelfen, weil sie "nicht konsensfähig" seien: Was hilft dann?

Merkel: Mein Vorschlag ist: Besinnen wir uns auf bestimmte Handlungsprinzipien, die aber grundsätzlich Ausnahmen anerkennen. Prinzipien sagen also: So und so soll man sich verhalten. Es mag aber sein, dass bestimmte extreme Situationen eintreten, in denen folgende Kriterien für folgende Ausnahmen gelten.

Die Furche: Solche Prinzipien sollten sich wohl in den Gesetzen niederschlagen. Doch wie kann es möglich sein, hier Ausnahmen vorzusehen?

Merkel: Das ist doch schon längst so. Am prägnantesten ist das im Strafrecht ausgeprägt. Das Verbot "Neminem laede", verletze niemanden, umfasst einen riesigen Katalog in den Strafgesetzbüchern, wo die konkreten Verbote ausgeführt werden. Doch zusätzlich gibt es einen "Allgemeinen Teil", wo festgehalten ist, was Täterschaft, Teilnahme, Beihilfe, Anstiftung oder Mittäterschaft ist - und wann die Verwirklichung der im Prinzip verbotenen Taten im Einzelfall gerechtfertigt sein kann. Die bekannteste Rechtfertigungsnorm heißt Notwehr. Selbstverständlich gilt bei uns das Tötungsverbot. Aber zugleich darf man in bestimmten Ausnahmefällen töten.

Die Furche: Solche Ausnahmefälle kann man kaum taxativ anführen. Man muss sie also abstrakt formulieren - und später abwägen. Befindet man sich hier nicht wieder im selben Dilemma wie bei einer Wertekollision?

Merkel: Nein, man ist schon einen erheblichen Schritt weiter als in dem groben Werte-Schema. Man denke nur an das Folter-Verbot. Hier unterscheide ich vier Grundformen: Die "Bestrafungsfolter", mit der man lange Zeit grausam getötet hat; die "Beweisermittlungsfolter", um ein Geständnis oder eine sonstige Aussage zu erzwingen; die "Präventionsfolter", die offenbar bei den Amerikanern in Guantánamo oder Abu Ghraib zum Zuge gekommen ist und dazu dient, eine gefährliche, befürchtete Situation von großer Unbestimmtheit aufzuklären; und schließlich die "Rettungs-oder Notwehrfolter". Hier geht es um die Folter an einer konkreten Person, die jetzt akut ein fremdes Menschenleben angreift.

Die Furche: Und diese vierte Art der Folter ist Ihrer Ansicht nach in bestimmten Fällen legitim?

Merkel: Ja. Natürlich soll der Staat nicht foltern, hier sind wir uns alle einig. Der Staat soll aber auch nicht zuschauen, wie ein Mörder, dem er in den Arm fallen könnte, ein unschuldiges Kind umbringt. Das war so ähnlich beim Fall Daschner, der Deutschland bewegt hat. 2002 hat der ehemalige stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner dem Entführer des Bankierssohns Jakob von Metzler drohen lassen, ihm Schmerzen zuzufügen, "wie er sie noch nie erlebt hat", wenn er nicht verrät, wo sein Opfer ist. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind zwar schon tot, aber Daschner glaubte noch, mit der Androhung der Folter das Leben des Kindes zu retten. Realistisch vorgeführt wird ein ähnlicher Fall auch im Film "Dirty Harry", wo ein Entführungsopfer lebendig begraben wird und zu ersticken droht. Diese Situation meine ich: Einen gegenwärtigen Angriff gegen das Leben eines Anderen. Der Staat soll nicht zuschauen, wie jemand einen anderen tötet. Die einzige Möglichkeit, mit der der Staat, also der Polizist, dem potenziellen Mörder in den Arm fallen kann, ist mittels Folter.

Die Furche: Etwas, was laut UN-Folterkonvention und europäischer Menschenrechtskonvention absolut verboten ist ...

Merkel: Ja. Doch warum sollte ein unschuldiges Kind getötet werden und der Staat, der dem Täter in den Arm fallen könnte, dem Retter in den Arm fallen, indem er sagt: Wenn du Folter auch nur androhst, wirst du bestraft? Ich will das Folterverbot ja nicht aushebeln, so wenig wie ich das Tötungsverbot ausheble, wenn ich sage: Natürlich ist tödliche Notwehr zulässig. Ich will die Kriterien der Ausnahme so scharf formulieren, dass das Risiko des Missbrauchs minimiert wird. Und ich will den Leuten zeigen: Seht her, Euer Absolutheitsanspruch ist nicht durchzuhalten. Die einzige Blockademöglichkeit wäre zu sagen: Dieser Fall ist logisch unmöglich. Dass ein solcher Fall extrem selten vorkommt, ist hingegen kein Einwand.

Die Furche: Welche Konsequenzen für die Rechtspraxis hätte Ihr Gedankenmodell?

Merkel: Die Konsequenzen liegen zunächst nur im genauen Besinnen auf die genauen Kriterien der Notwehr, die man in diesen Rettungsfolterfällen "Nothilfe" nennt. Nothilfe ist die Notwehr zu Gunsten eines anderen Bedrohten. Und nach den geläufigen Kriterien der Notwehr müssen das extrem seltene Fälle sein - Gott sei Dank. Aber wenn sie auftreten, dann sollten wir uns vorher darauf besonnen haben, was zulässig ist und was nicht.

Die Furche: Welche Rolle spielt hierbei das Gewissen des Einzelnen?

Merkel: Eine erhebliche. Erstens geht es um die Entscheidung: Wie soll ich denn handeln? Vielen liefert das Gewissen aber in der Kollision der Werte keine zwingende Entscheidung. Zweitens geht es darum, was man jemandem, der sich in einer solchen Situation befindet, wirklich zumuten kann. Meine Analyse zeigt zwar, dass es in bestimmten extremen Fällen eine begründbare Erlaubnis gibt für das Androhen und möglicherweise tatsächliche Zufügen von Schmerzen. Damit rede ich aber nur von Erlaubnis, nicht von Zwang. Auch die Polizei ist zwar verpflichtet, bedrohtes Menschenleben zu retten. Diese Pflicht muss aber auch begrenzt werden. Wenn jemand sagt: Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren zu foltern, dann hat das Gesetz nicht das Recht, ihn bei Strafdrohung zu nötigen. Ich persönlich könnte auch nicht foltern. Aber vielleicht könnte ich bluffen - wie Daschner es tat.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Heller Kopf, scharfe Zunge

Dieser Mann regt auf: Mit seinen Argumentationsketten, die zu höchst unbequemen Schlüssen führen; mit seinen Thesen, die in so sensiblen Bereichen wie Bioethik dem deutschen Mainstream zuwider laufen; und mit seiner Wortgewalt, die Widerspruch recht mühsam macht. Reinhard Merkel ist ein brillanter Unbequemer. Kein Zufall, dass der Karl-Kraus-Liebhaber 1991 - ein Jahr, nachdem er dem Feuilleton der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" den Rücken gekehrt hatte und in die Wissenschaft zurückgekehrt war -den Jean-Améry-Preis für Essayistik erhielt.

Merkel, der in Bochum, Heidelberg und München Rechtswissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft studiert hatte, promovierte 1993 in München. 1997 folgte die Habilitation in Frankfurt am Main. Seit 2000 forscht und lehrt er nun als Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Die Lust an der Provokation und an den "Hot Spots" des öffentlichen Diskurses zeigt sich nicht zuletzt an seinen Publikationen: Mit "Früheuthanasie" an Ungeborenen hat er sich ebenso befasst wie mit aktiver Sterbehilfe und dem Kosovo-Krieg. Unvergessen bleibt sein Schlagabtausch mit dem Philosophen Robert Spaemann am Höhepunkt der deutschen Bioethik-Debatte - der er "Doppelmoral" unterstellte. Nicht ganz so scharf, aber dennoch kritisch geht er derzeit mit dem absoluten Folterverbot als einem der grundlegenden Werte der zivilisierten Gesellschaften ins Gericht. Diesem Thema widmete Merkel auch seinen Vortrag im Rahmen der "Waldviertel Akademie", die vergangene Woche das brisante Thema "Werte, aber welche?" in ihren Fokus rückte.

Nähere Infos unter www.waldviertelakademie.at

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