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Egon Matzners Streitschrift gegen Mittelmaß-Österreich

Egon Matzner, Professor für Nationalökonomie, theoretisch und praktisch stets der Sozialdemokratie verbunden, zählt zu den wenigen, intellektuell und moralisch ausgewiesenen Wissenschaftern, die eine fundamentale Kritik am politischen Kurs der SPÖ nach Kreisky formuliert haben und formulieren.

Unter dem Titel "Die vergeudete Republik" (eine Sammlung von Presse-Kolumnen und Vorträgen aus den letzten zehn Jahren) macht sich Matzner nicht nur um die SPÖ, sondern auch um das zukünftige Schicksal der Zweiten Republik Sorgen. Einem Diktum Friedrich Heers folgend sieht Matzner Österreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer gefährlichen geistigen "Engführung". Die Hauptgründe für die politische Krise Österreichs diagnostiziert Matzner im Vergessen der leidvollen Erfahrungen der Ersten Republik, die 50 Jahre lang für die Zusammenarbeit der politischen Kräfte, vor allem in der Sozialpartnerschaft, gesorgt hatten. Diese politische Kooperation sei vor allem von Jörg Haider, aber auch von etlichen österreichischen Intellektuellen bewusst heruntergemacht worden.

Zum Verlust der historischen Erfahrungen komme das Fehlen von Visionen für die Zukunft, vor allem das Fehlen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch jeglicher innovativer Ansätze für die Demokratisierung der EU oder eines Konzepts für die Osterweiterung. Diese politische Krise sei, so Matzner, nur durch die derzeitige Auswahl des politischen Personals zu erklären, in der das "Gesetz des absteigenden Mittelmaßes" vorherrsche: Nicht der Beste wird für Ämter vorgeschlagen, sondern der Bequemste und Anpassungsfähigste. Der beste Weg zum Aufstieg sei maximale Unauffälligkeit.

Gegen den publizistischen Mainstream richtet sich Matzners Haider-Analyse, die er mit vehementer Kritik an den "Austro-Intellektuellen" verknüpft. Nicht die Verdrängung der NS-Vergangenheit sei der Nährboden für den Aufstieg der Haider-FPÖ seit 1986 gewesen, wie es seit der von der SPÖ mitinszenierten Affäre Waldheim von österreichischen Literaten und Publizisten immer wieder behauptet wurde: "Jörg Haider wurde vor allem von der österreichischen Sozialdemokratie der Boden bereitet, und die kritischen' Haider-Macher haben ihm die Trommeln gerührt." Haider habe jene Ängste ausgenutzt und geschürt, die die anderen Parteien, vor allem die SPÖ, den Menschen nicht nehmen konnten.

Die Kürze mancher Kolumnen verkürzt manchmal auch die Argumentation. Gerade Matzners massive Polemik gegen die These von der Verdrängung der NS-Zeit, von der "Lebenslüge" Österreichs als "erstes Opfer der Nazis", von der überproportionalen österreichischen Beteiligung an der Judenvernichtung hätte eine ausführlichere Argumentation verdient - trifft sie doch den Kern der aktuellen Identitätskrise, die das Land erfasst hat, auch wenn es die politische Klasse nicht wahrhaben will.

Zu kurz geraten für die gesamtgesellschaftliche Analyse ist auch die Entwicklung der Medien und der Medienpolitik, die die Sozialdemokratie betrieben hat. Die Wahl vom 3. Oktober 1999 wertet Matzner als Mark- und Merkstein der Zweiten Republik, deren ideologische und ideelle Grundlagen Jörg Haider bewusst zerstören will. Dass der "selbstverschuldete Abstieg der SPÖ von der Mehrheits- zur Drittelpartei" in logischer Konsequenz zur Bildung der ÖVP-FPÖ-Koalition führen musste, stand für den politischen Analytiker Matzner von Anfang an außer Zweifel. Allerdings habe die Sozialdemokratie auch in ihrer jetzigen Oppositionsrolle weder moralische, noch geistige oder politische Initiativen entwickelt. Es fehle die Kraft, sozioökonomische Prozesse zu analysieren, und eine Gegenposition zur herrschenden neoliberalen Doktrin aufzubauen.

Haiders "Dritter Republik" will Egon Matzner eine Wiederbegründung der "Zweiten Republik" entgegensetzen. Er plädiert für eine neue Verfassung, die die demokratischen Grundwerte im Gegensatz zu Haiders autoritären Plänen erhält, er plädiert für die Zusammenarbeit der großen politischen Kräfte, gegen den neu entstehenden Austro-Provinzialismus, für eine aktive Nachbarschaftspolitik und einen neuen Basis-Konsens in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Dass die Sozialdemokratie auf einen ihrer begabtesten und engagiertesten Theoretiker leichtfertig verzichtet (so wurde der Koordinator des 1978 erstellten Parteiprogramms bei der jüngsten Programmdiskussion nicht eingeladen), scheint ein Beleg für die Existenz des "Gesetzes vom absteigenden Mittelmaß". Dass Matzners Thesen zur Identitätskrise Österreichs in den Medien nicht diskutiert werden, ist auch ein Beleg für die Matzner'sche These der "Angst vor dem anderen Argument", diese merkwürdige Unfähigkeit, Konflikte offen, in zivilisierter Form auszutragen, eine mentale Tradition, die wahrscheinlich, wiederum nach Friedrich Heer, bis in die Gegenreformation zurückreicht.

Die vergeudete Republik. Wie sie wiederbegründet werden könnte.

Von Egon Matzner.

Edition Va Bene, Wien-Klosterneuburg 2001, 260 Seiten, geb., e 23,90

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