Im Doch-Nicht-Staat

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Gagausien: Sandwich-Region, die nicht so recht weiß, wo sie dazugehört.

Die Gagausen könnten die Herren der Welt sein: Gagausisch ist dem Türkischen eng verwandt und schafft eine natürliche Nähe zum turksprachigen Raum; das Russische, das die christlich-orthodoxen Gagausen im Alltag bevorzugen, erschließt ihnen die gesamte postsowjetische Welt; und die vielen Gagausen, die dazu noch die rumänische Staatssprache Moldawiens beherrschen, erlernen mühelos romanische Sprachen.

Die Welt nimmt freilich keine Notiz von dem 180.000-Seelen-Ländchen, das sich 1991 für unabhängig erklärt hat und seit 1994 Mitglied der Organisation von der UNO nicht anerkannter Staaten (UNPO) ist. Gagausien hält die Insignien seiner bescheidenen Staatlichkeit hoch, unterhält Sonderbeziehungen zur manchmal spendablen Türkei und hat sich ansonsten mit der Zentralgewalt des Staates arrangiert, auf dessen Gebiet es liegt. Der Staat hieß zunächst Moldawien, dann Republik Moldova, zur Zeit will er Republik Moldau genannt werden.

Früheres Bessarabien

An der Fernstraße, die von der moldawischen Hauptstadt Chis DBina D8u nach Süden führt, ragt das einzige Grenzmonument auf, das sich Gagausien geleistet hat. Das Pro-Kopf-Einkommen der Region, die einmal Bessarabien hieß, erinnert an afrikanische Werte. Wer von Moldawien nur die Berichte über Waisenelend, Nierenhandel und Zwangsprostitution kennt, staunt über die zahllosen schicken Cafés, die selbst auf dem flachen Land gedeihen. Sportliche Neuwagen mit italienischen und spanischen Kennzeichen kurven durch das bukolische Agrarland.

Die in diesen Wagen sitzen, sind gewiss keine italienischen und spanischen Touristen. Man käme der Wahrheit näher, ersetzte man an den Grenzen die moldawischen und gagausischen Flaggen durch die schwarz-gelbe Trademark eines auf grenzüberschreitende Überweisungen spezialisierten Finanzdienstleisters: Sie betreten hiermit Western-Union-Country.

Zwei Jahre nach dem ersten Besuch kehren wir nach Comrat zurück, in das flache Großdorf, das Gagausien als Hauptstadt und dem "Baschkan" als Amtssitz dient. Jeder, der einmal in Comrat war, berichtet von Staub, von ungreifbaren Schwaden wehenden, rieselnden, in den Organismus dringenden Staubs. Comrat hat sich aber entwickelt, die Fußwege im Zentrum sind gepflastert, an windarmen Tagen scheint der Staub gebannt.

"Barbaren aus dem Westen"

Wir wollen eine Landkarte Gagausiens kaufen und landen in dem kleinen dreistöckigen Amtsgebäude, in welchem sowohl das Parlament als auch die Regierung untergebracht sind. Gagausien ist auf vier Territorialflicken verstreut, und nicht einmal der Pressechef des Baschkans besitzt eine Karte seiner Republik. Er teilt aber freigiebig aus, was er hat: das gagausische Grundgesetz in gagausischer, rumänischer und russischer Sprache, ein in Ankara erschienener Bildband mit Trachtenmotiven, moldawische und gagausische Fähnchen samt Plastiksockel, ein Werbefolder für Investoren in russischer Sprache und eine Broschüre, von der er sich eilfertig distanziert: "Wir unterhalten keine offiziellen Beziehungen mit Transnistrien."

Transnistrien, das ist jene russisch dominierte Republik, die ihre Abspaltung von Moldawien mit blutigem Ernst durchgezogen hat und tatsächlich eine Art von Staatlichkeit erreicht hat - international nicht anerkannt, von Moskau unterstützt und zum Preis von 900 Toten. Der Titel des transnistrischen Heftchens, das der Pressechef mit spitzen Fingern weiterschenkt, lässt keine Fragen offen: "Barbaren kommen aus dem Westen."

Demnächst wählt Gagausien einen neuen Baschkan. Die geostrategischen Vorlieben, die man den Kandidaten nachsagt, spiegeln die Verworrenheit des moldawischen Problemknäuels wider, das aus Comrater Perspektive noch um einige Knoten verwickelter erscheint. Soll Gagausien weiterhin mit der kommunistischen Zentralregierung Moldawiens kooperieren? Ist diese nicht allzu unglücklich zwischen den feindseligen Machtpolen EU und Russland gelandet? Kommen die Türken als arglose Kultursponsoren oder streben sie nicht doch nach Islamisierung ihrer versprengten christlichen Brüder? Und wie soll man's mit den nahen Transnistriern halten? Bewundert, achtet, ignoriert oder isoliert man sie? Jede Debatte endet aber unweigerlich bei der einen Glaubensfrage: War es der Amtsinhaber oder sein Herausforderer, der alte Baschkan oder der junge Bürgermeister, der das Geld für die Pflasterung des Comrater Gehsteigs gab?

Wir Afghanistan-Veteranen

Bereits in der Nacht unserer Ankunft laden uns junge Gagausen in den neuen Stadtpark ein, zu Wodka und selbst gekeltertem Rotwein. Stolz erzählen sie vom internationalen Gagausen-Kongress, der vor kurzem in Comrat stattgefunden hat, mit gagausischen Delegierten aus vierzehn Ländern. Sie singen zur Gitarre, zuerst die Klassiker des Sowjetpops, irgendwann aber nur noch Afghanistan-Lieder, tieftraurige Lieder vom Sterben am Hindukusch. Die zwanzigjährigen Burschen verwechseln Österreich mit Schweden und würden auch Afghanistan nicht auf der Karte finden, aber sie haben die Lieder von ihren Vätern gelernt, und so sehr sie ihre Coolness pflegen, werden sie beim Singen von der Rührung übermannt - als wären sie selbst Veteranen dieses Kriegs.

Von der langen Nacht noch bewegt, fahren wir ins flache gagausische Land hinaus. Schon zwei Dörfer weiter hält man uns wieder an. Es ist leicht zu erraten, dass es sich bei dem eleganten Honoratioren und seinem dicklichen Begleiter nur um den Bürgermeister und seinen Vize handeln kann. Wie jedes Jahr feiert das Dorf den Jahrestag seiner Gründung. Der "Primar" und sein Vize bestehen darauf, uns auf das Fest einzuladen, und stellen uns in einem beschwingten Triumphzug ihren Bürgern vor: "Wir haben Gäste aus Riga."

Die Aktiven sind ins Ausland

Sie führen uns in das fensterlose Separée des besten Cafés, in das Spezialzimmer, das Normalsterblichen sonst verborgen bleibt, und kredenzen uns ihren besten Wein. Nach ein paar Gläsern gesteht der Bürgermeister, dass er bald an den Vize übergeben will. Es macht ihm keine rechte Freude mehr, das Winzerdorf zu regieren.

Der Vize drückt sich weniger diplomatisch aus: Tomay hat 5000 Einwohner, von denen mindestens 1000 außer Landes sind. Sie rackern in Moskau und Portugal auf dem Bau, arbeiten auf türkischen Märkten, machen italienische und spanische Häuser sauber. Die Aktiven zwischen zwanzig und vierzig sind abwesend, "alle, die etwas Verstand oder kräftige Hände haben, sobald sie ihren Pass haben, sind sie weg". Das ganze Dorf hängt am Tropf ihrer Überweisungen. Ihre Kinder schwänzen die Schule, entgleiten den Großeltern, hängen in den Bars von Tomay ab, setzen den Western-Union-Bareingang in Mode, Alkohol und Drogen um.

Am Ende führt uns der Bürgermeister ins Rathaus. Hinter einer gepolsterten Tür tut sich sein Büro auf, beherrscht von einer kleinen Madonnenikone, einer kleinen türkischen Fahne und einem großen Ölgemälde, das Lenin am Schreibtisch zeigt. "Er war schon immer da", erklärt der Bürgermeister, "und ich sag mal so, er stört hier niemand."

Russland boykottiert Wein

An der Wand klebt eine repräsentative Karte des moldawischen Staats. Gagausien sieht darauf wie einer von 32 Bezirken aus, und erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass der kleine Dann-doch-nicht-Staat als "Unitatea teritoriala D8 autonoma D8" gekennzeichnet ist. Als der Bürgermeister bemerkt, dass uns die Karte gefällt, reißt er sie spontan herunter - ein Teil der Tapete geht mit - und überreicht sie uns als Gastgeschenk.

Dann gibt er uns noch ein paar Flaschen Wein für die Reise mit. Der Wein, noch ein Problem, das Tomay quält: Seit Russland ein Importverbot für moldawischen Wein verhängt hat, fährt die örtliche Produktion nur noch auf einer Schicht. Doch manchmal findet der Wein seinen Weg nach Russland, wirft der Vize grinsend ein - "mit bulgarischen und australischen Etiketten auf den Flaschen". Wenn sich ein Volk in dieser komplexen Welt zurechtzufinden weiß, dann müssten das eigentlich die Gagausen sein.

Der Autor ist freier Journalist.

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