Im richtigeren Deutschland

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Wenn Ostdeutschland wieder in die EU-Mitte rückt, sieht manches anders aus, meint Lothar de Maiziere im Gespräch über Wende und Wiedervereinigung.

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Wenn Ostdeutschland wieder in die EU-Mitte rückt, sieht manches anders aus, meint Lothar de Maiziere im Gespräch über Wende und Wiedervereinigung.

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dieFurche: Wenn Sie mit dem Abstand von zehn Jahren auf die Wende zurückblicken. Was führte aus heutiger Sicht zum Untergang der DDR?

Lothar de Maizi`ere: Die Möglichkeit zur deutschen Wiedervereinigung war ein Abfallprodukt des Unterganges eines Weltreiches. Die Sowjetunion hatte sich im Wettlauf mit dem Westen übernommen und ist an ihren systemimmanenten Widersprüchen kaputtgegangen. Und der dadurch provozierte Fall der Berliner Mauer war letztendlich die Sterbestunde der DDR. Von vielen war das damals nicht so mit der Schärfe und Konsequenz gesehen worden. Aber in dem Moment, wo die Menschen weggehen konnten, sich nach dem Westen orientieren konnten, beurteilten sie den eigenen Staat umso kritischer. Während manche noch darüber nachdachten, wie eine erneuerte DDR aussehen könnte, hatten die Demonstranten in Leipzig längst die Karten neu gemischt und sagten: Wir Deutsche sind ein Volk!

dieFurche: Zu welcher dieser Gruppen gehörten Sie? Glaubten Sie an ein Fortbestehen der DDR?

de Maizi`ere: Die CDU-Ost setzte schon auf dem Parteitag im Dezember 1989, den ich leitete, die Einheit Deutschlands auf die Tagesordnung. Wir waren damals sehr viel früher als andere der Auffassung, daß dies der einzige und der richtige Weg wäre. Am 9. November aber dachte ich sicherlich noch nicht so. Mir war zwar klar, es beginnt eine neue Zeit, es beginnt etwas völlig anderes, aber die Erkenntnis, daß eine eigenständige, auch wirtschaftlich eigenständige DDR nicht mehr möglich ist, kam mir erst später.

dieFurche: Fühlten sich die Menschen in der DDR vom Westen im Stich gelassen? Hätten Sie sich auch von der CDU im Westen mehr erwartet?

de Maizi`ere: Wir hatten im Osten den Eindruck, der Westen Deutschlands stellt seine Sicherheit, seine wirtschaftliche Prosperität vor die Idee der Einheit. Es ist doch Zufall, wo das Schicksal einen hingestellt hat, wo man geboren ist. Deswegen müsse sich die bundesdeutsche Politik sehr viel stärker bemühen, zunächst das Ziel der Einheit anzugehen. Doch in der damaligen CDU war der Grundkonsens, zuerst die Einbindung der Bundesrepublik an den Westen zu meistern und sich dann erst mit dem Ostens zu arangieren. Man darf nicht vergessen, die Welt bildete sich damals als bipolare Welt heraus. Die Ausbalancierung der beiden Systeme war den Herrschenden wichtiger als das Schicksal der Ostdeutschen.

dieFurche: Hatten Sie beim Ende der DDR das Gefühl etwas Wichtiges zurückzulassen. Fiel der Abschied schwer, gab es ein wenig Wehmut ...

de Maizi`ere: Sicherlich! Die DDR war 40 Jahre unsere Biographie. Wie die DDR gegründet wurde, war ich neun Jahre alt. Ich habe fast mein gesamtes bewußtes Leben in diesem Lande verbracht. Viele haben unglaubliche Kraft aufgewandt für den Wiederaufbau. Insbesondere die Wiedereingewanderten - die aus dem amerikanischen und russischen Exil kamen - glaubten ja, hier entsteht das richtigere Deutschland. Die meisten Ostdeutschen sind mit einer gewissen Kapitalismuskritik groß geworden. Wir meinten, es muß doch noch eine andere Form der Gestaltung von Gemeinwesen geben. Eine Gesellschaft in der die Güter dieser Erde ein wenig gerechter verteilt sind.

dieFurche: Wann wurden diese Hoffnungen, die Sie in die DDR setzten enttäuscht?

de Maizi`ere: Der entscheidende Bruch mit dem System ist für mich 1968 gewesen, als die Truppen des Warschauer Paktes in Prag einmarschierten, und die sich dort abzeichnende Demokratiehoffnung zerstörten. Ich glaube, jeder für sich hat so ein Erlebnis gehabt, bei dem er ausgestiegen ist. Die DDR-Geschichte läßt sich nicht Schwarz-Weiß zeichnen, sondern in Erlebnissen, die jeder einzelne hatte. Zum Beispiel: Noch im Sommer 1989 wurde meiner jüngsten Tochter die Zulassung zur Oberschule abgelehnt, weil sie aus einem bürgerlichen, christlich geprägten Haus kam. Solche Erlebnisse ließen einen den eigenen Staat nicht besonders lieben.

dieFurche: Gab es Zeiten, in denen Sie überlegt haben, zu fliehen?

de Maizi`ere: In den fünfziger Jahren hat meine Mutter, die eine sehr fromme Frau war, überlegt, wegzugehen. Sie wollte nicht, daß die Kinder in einem atheistischen Staat groß werden. Mein Vater sagte: Das Land Brandenburg hat uns vor 300 Jahren Asyl gegeben, als wir wegen unserer religiösen Überzeugung - weil wir eben Protestanten bleiben wollten - aus Südfrankreich hergezogen sind. So ein Land läßt man nicht im Stich. Solange wir hier unseren Glauben leben können, bleiben wir. Diese Überzeugung meines Vaters habe ich mir zu eigen gemacht. Und es war auch generell so, daß die Kirchen immer wieder zum Dableiben ermahnt haben.

dieFurche: Wie traten die Kirchen in der DDR sonst noch in Erscheinung?

de Maizi`ere: Die Kirchen, besonders die protestantischen, haben eine Stellvertreterrolle übernommen, da es in der DDR keine Öffentlichkeit, keine freie Presse, keine freie Berichterstattung gab. Das führte dazu, daß oppositionelle Gruppen sich unter dem Dach der Kirche ansiedelten. Die Kirche war Schutzraum: wenn in ihren Räumen gesprochen wurde, konnte der Staat nicht eingreifen. Sie war Artikulationsraum: man konnte Argumente ausprobieren, konnte Meinungen bilden. Das alles hat ihnen einen Vertrauensbonus gebracht - auch bei Leuten, die nicht zur Kirche gehörten - und ermöglicht, daß sie eine führende Rolle in der Wende übernehmen konnte.

dieFurche: Worin bestand diese führende Rolle der Kirchen?

de Maizi`ere: Sehr bald etablierte sich der "Runde Tisch" in Berlin und auch in den Bezirken. Ihrem Selbstverständnis nach hatten die Runden Tische ein Wächteramt für die Übergangszeit inne, bis freie Wahlen demokratisch legitimierte Verhältnisse schaffen. Moderiert wurden diese Gesprächsforen von den Geistlichen der evangelischen oder katholischen Kirche. Sie haben dafür gesorgt, daß das Land nicht im Chaos versunken ist. Die Menschen hatten das Gefühl, die Leute am Runde Tisch bewegen etwas, die denken nach, wie es weitergehen soll. Wenn die Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der SED nicht diese Perspektive gehabt hätte, dann weiß ich nicht, wohin die Menschen gedriftet wären.

dieFurche: Kritiker der Wiedervereinigung beklagen, das westliche Modell wurde über den Osten gestülpt, und das Eigenständige ist zu kurz gekommen.

de Maizi`ere: Diejenigen, die diese Kritik äußern, wollten letztendlich nicht die Einigung, sondern einen eigenständigen DDR-Staat. Der sollte klein, bescheiden, ökologisch, pazifistisch, himmlisch gerecht sein. Dafür gab es aber weder eine wirtschaftliche noch finanzielle Konzeption.

dieFurche: Viele sind mit dem wie es jetzt läuft aber unzufrieden. Viele sehnen sich nach den alten Zeiten ...

de Maizi`ere: Es gibt Leute, die mit einem gebrochenen Selbstbewußtsein diesen Prozeß erleben, die sich in einer Welt, die sich so dramatisch verändert hat, nicht mehr zurechtfinden. Sie müssen davon ausgehen, die Menschen im Osten haben über Nacht ein neues Politik- und Rechtssystem, eine neue Werteordnung, ein neues Bildungs- und Wirtschaftssystem. Nichts ist mehr, wie es war. Demgegenüber gibt es jetzt viele junge Leute, die ihre Chancen ergreifen und die wissen, daß sie Chancen haben, die sie früher nie gehabt hätten.

dieFurche: Sie schildern die Kluft zwischen Wendeverlierern und Wendegewinnern ...

de Maizi`ere: Mir passen die Begriffe Wendegewinner und Wendeverlierer nicht. Alle sind Gewinner und manche auch Verlierer. Alle sind Gewinner im Sinne von Zugewinn an Freiheit, an Entfaltungsmöglichkeit. Wir sollten das was im Sozialismus nicht selbstverständlich war - die bürgerlichen und zivilen Freiheitsrechte - nicht gering achten. Das ist ein wichtiges Gut, das jetzt alle haben, auch die heute PDS wählen. Sollen sie doch! In der Zeit, in der sie herrschten, konnte nur keiner eine andere Partei wählen.

dieFurche: Nicht nur im Osten gibt es Unzufriedene. Wie soll man auf die schwindende Solidarität im Westen Deutschlands reagieren?

de Maizi`ere: Wir müssen deutlich machen, daß das was in den Osten kommt, zukunftsweisend angelegt ist. Der Osten stellt 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands und hat 1990 knapp sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts hergestellt. Inzwischen produziert der Osten zwölf Prozent. Wenn er einmal 20 Prozent erreicht, soviel wie sein Bevölkerungsanteil ist, dann sind die Voraussetzungen geschaffen, daß die Hilfsleistungen von West nach Ost geringer werden können.

dieFurche: Daß wir nicht nur darüber sprechen, was der Westen für den Osten leistet. Was bringt der Osten an Modellen für ein besseres Deutschland ein? Sie haben vorhin von der Kapitalismuskritik gesprochen ...

de Maizi`ere: Die Fragestellung nach sozialer Gerechtigkeit hat nach wie vor in unserer Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert. Auch haben wir ein anderes Verhältnis zur Kultur und Literatur. Die Aufgabe der Ostdeutschen wird sich erst richtig erweisen, wenn wir sehen, wie die EU-Mitgliedschaft von Polen, von Tschechien, von Ungarn vorankommt, und der Osten Deutschlands zur Drehscheibe für diese Region wird. Noch sind wir wegen der EU-Grenze an der Oder in der Randlage. Lassen wir uns mal wieder in die Mittellage kommen, dann sieht manches anders aus.

dieFurche: Hilft der Regierungsumzug nach Berlin kräftig mit, wieder vom Rand in die Mitte zu rücken?

de Maizi`ere: Wir haben 1990 im Einigungsvertrag um diese Frage gekämpft. Der politischen Klasse sollte deutlich werden, daß ein neues Zeitalter beginnt. Es kann nicht nur ein neues Zeitalter für den Osten sein, es muß ebenso für den Westen erfahrbar, ein neues Gemeinwesen entstehen. Dieses Bewußtsein wird sich in Bonn, dem beschaulichen Kleinstädtchen am Rhein weniger vermitteln lassen als in Berlin, einer Stadt im Herzen Europas.

dieFurche: Stefan Heym hat die DDR, als "Fußnote der Weltgeschichte" bezeichnet. Was war die DDR für Sie?

de Maizi`ere: Für mich war die DDR vier Fünftel meines Lebens, und ich bin 1990 nicht als Neugeborener in die deutsche Einigung gekommen, sondern als Mensch mit einer Biographie, die sich in einem anderen Gemeinwesen abgespielt hat. Wo man auch, sofern man die Kraft fand, ein anständiges Leben führen konnte.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich DDR-Ministerpräsident auf zeit "Ich kann mich nicht beschweren, daß der Job so gelaufen ist", sagt Lothar de Maiziere zum Faktum, daß er sich mit der Wiedervereinigung als DDR-Ministerpräsident selbst überflüssig gemacht hat.

De Maiziere wurde 1940 im Bundesland Brandenburg geboren. Er studierte das Fach Viola und war in verschiedenen Orchestern tätig. Nach einem juristischen Fernstudium arbeitete er als Rechtsanwalt. Im April 1990 wurde de Maiziere zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Nach der Einigung im Oktober 1990 war er Bundesminister und stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands. Heute ist de Maiziere Rechtsanwalt in Berlin.

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