In der Justiz-Mühle

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Zwei Afrikaner, eine Vergewaltigung: alles hätte so gut gepasst - bis auf die Beweise.

Zwei Afrikaner sitzen zwei Monate in der St. Pöltner Justizanstalt in Untersuchungshaft, weil sie eine Frau vergewaltigt haben sollen. Letzten Freitag, am ersten Tag des dritten Haftmonats, telefoniert die Furche um 11 Uhr vormittag mit Franz Cutka, Vizepräsident des Landesgerichts St. Pölten: Obwohl die fremden DNA-Spuren am Opfer nicht mit den beiden Afrikanern übereinstimmen, "heißt das noch lange nicht", sagt Cutka am Telefon, "dass sie es nicht waren". Obwohl immer mehr Zeugenaussagen gegen ein Verbrechen der beiden Beschuldigten sprechen, heißt das noch lange nicht, "dass die Staatsanwaltschaft nicht Anklage erheben wird". Und obwohl sich die St. Pöltner Öffentlichkeit nach einer anfänglichen Hetzkampagne (die FPÖ verteilte Pfefferspray gegen schwarze Vergewaltiger) mit den Afrikanern im Gefängnis zusehends solidarisiert, glaubt Cutka zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die beiden schnell freikommen: "Wie soll man das der Öffentlichkeit erklären, dass man so mir nix, dir nix ein Verfahren gegen zwei mutmaßliche Vergewaltiger einstellt?"

Über Mittag unschuldig

Derselbe Freitag, knapp fünf Stunden später wird John E., der mutmaßliche Vergewaltiger, entlassen. Zwei Justizwachebeamte bringen ihn zum Gefängnisausgang, sagen, dass er unschuldig sei und entschuldigen sich für die lange Untersuchungshaft; seine Wertgegenstände soll er sich nach dem Wochenende abholen - Freitag nach 16 Uhr hat der zuständige Schalter nicht mehr offen.

"Diese Entscheidung kam wie aus heiterem Himmel", erklärt der Vizepräsident des Landesgerichts St. Pölten der Furche am Montag, wie es möglich war, dass ein mutmaßlicher Schwerverbrecher über Mittag seine Unschuld beweisen kann. Wobei dieser heitere Himmel nur über John E. aufgegangen ist - für den zweiten Verdächtigen, Ray A., der das Opfer während der Vergewaltigung festgehalten haben soll, bleiben die Aussichten düster, die Gefängnistore verschlossen.

Alibi interessierte niemand

"Am Anfang hab' ich geglaubt, das kann nur einem Schwarzen passieren, jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher - wenn die einen haben, lassen die ihm nicht mehr raus", kommentiert ein St. Pöltner Kaffeehausbesucher den Fall, der seit Ende April die Bevölkerung in der niederösterreichischen Landeshauptstadt beschäftigt.

C., der Freund und Wohnungskollege von John E. und wie dieser afrikanischer Asylwerber, verkauft die Obdachlosenzeitung Augustin am Hauptplatz von St. Pölten. Er erzählt, dass er jetzt von Menschen angesprochen wird, die sich dafür entschuldigen, dass sie ihn nach der Verhaftung seines Freundes beschimpft haben: "Sie haben mir damals vorgeworfen:, Wir nehmen euch bei uns auf und ihr vergewaltigt unsere Frauen!' - Ich habe ihnen, gesagt, das stimmt nicht, John war zum Tatzeitpunkt zuhause." Von diesem Alibi wollte aber vor gut zwei Monaten keiner etwas wissen - die Passanten nicht und nicht die Polizei.

Die ließ sich zu diesem Zeitpunkt noch für "die beispiellose Fahndung nach den Tätern" in der Lokalpresse feiern und dafür, dass "die mühsame Kleinarbeit schließlich von Erfolg gekrönt war". Dass Sepp Gruber, der St. Pöltner Betriebsseelsorger und gute Bekannte von John E., die Polizei am Tag der Verhaftung von dessen Alibi und den Zeugen dafür hingewiesen hat, war den Fahndern nur den abschlägigen Kommentar wert: "Was wollen Sie mit diesen Verbrechern, die stecken doch alle unter einer Decke - das weiß doch jeder!"

Mutter bangt um toten Sohn

Während des Gesprächs von Johns Entlastungszeugen C. mit der Furche läutet dessen Handy - die 70-jährige Mutter von John ruft aus Nigeria an, fragt, ob es stimmt, dass ihr Sohn schon gestorben sei. Der Freund kann die Gerüchte aus der Welt schaffen und kurz später die Freilassung des Sohnes nach Hause melden.

Gerüchte, Ungereimtheiten, Vorurteile - dieser Fall bietet von allem genug. Und nicht nur die Afrikaner sind davon betroffen. Zusehends kommt das Opfer in Argumentationsnotstand: Wie stark betrunken war sie zum Tatzeitpunkt? Stimmt der Tatort, den sie angibt? Nach zwei Monaten tauchen Zeugen auf, die das in Frage stellen. Stimmen die Personenangaben? Angeblich soll ein Täter tätowiert gewesen sein, doch weder John noch Ray haben Tätowierungen und ein ominöses "weißes Kapperl" lässt sich auch nicht finden. Dazu die fremden DNA-Spuren, die weder im Genitalbereich noch an den Händen des Opfers mit denen beider Beschuldigter übereinstimmen.

Opfer in Argumentationsnot

Ungute Allianzen entstehen in der St. Pöltner Öffentlichkeit: Afrikanerpartei gegen Opferpartei. Ein leitender Redakteur einer Lokalzeitung ärgert sich, dass eine "starke kirchennahe Lobby" für die Beschuldigten Partei ergreift, "nur weil die beiden besser integriert sind". Die Aussagen des Opfers werden in Frage gestellt, schimpft der Journalist: "So einfach darf man es sich nicht machen, die Frau weiß genau, was sie gesehen hat." Und auch den Vorwurf, die Beschuldigten seien in den Medien vorverurteilt worden, lässt er nicht gelten: "Wir haben allen die Chance gegeben, ihre Meinungen über unser Blatt zu transportieren."

Der bereits genannte Betriebsseelsorger Sepp Gruber ist der Sprecher dieser "kirchennahen Lobby". In diese Rolle hineingeraten ist er als wichtiger Ansprechpartner für Afrikaner, die bei ihm Rat suchen. Letzter Donnerstag vormittag: Alle paar Minuten klopft es an seiner Bürotür, schauen schwarze Köpfe herein, die ihn um Auskunft bitten. Dass dieser Fall über die niederösterreichische Landeshauptstadt hinaus bekannt geworden ist, verdankt sich seinem Engagement.

Schlampigkeiten und Chaos

Gruber ärgert die "schlampige Recherche der Polizei" und "die chaotische Vorgangsweise des Gerichts". Der ermittelnde Chefinspektor, zu diesem Vorwurf befragt, würde "gerne etwas sagen, weil da wird viel hochgespielt", aber er darf nicht, das Verfahren ist gerichtsanhängig. Und zum Chaos im Gericht? Dass der Vizepräsident am Vormittag nicht weiß, was nachmittags passiert, macht keinen guten Eindruck.

Peter Krömer, der Anwalt des noch wegen dringenden Tatverdachts einsitzenden Ray A., hat Grundrechtsbeschwerde beim Obersten Gerichtshof erhoben. Krömer: "Und die Staatsanwaltschaft macht im Sinne meines Antrags massiv Druck auf weitere Erhebungen" - nach über zwei Monaten Untersuchungshaft. "Sein Schützling", sagt Anwalt Krömer, habe ihn zudem nach den Kopien der DNA-Untersuchungen gebeten - Ray braucht sie als Unschuldsbeweise gegenüber seinen Mitgefangenen, "denn in jedem Gefängnis gibt es eine Hierarchie, Kinderschänder und Sexualstraftäter sind ganz unten".

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