Indiens Millionen und der Trost der Stadt

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Indiens Großstädte lebt von den billigen Arbeitskräften aus den Slums und der Landflucht. Doch das rasche Wachstum der Armenviertel birgt sozialen Sprengstoff.

Die 25-jährige Werbefachfrau Disha Kathuria ist zufrieden. Die indische Hauptstadt Neu Delhi, wo sie ihre Laufbahn begonnen hatte, war ihr zu hektisch geworden, also beschloss sie, in die südliche Metropole Bangalore zu ziehen. Hier fühlt sie sich - derzeit zumindest - wohl. Wenn es ihr hektischer und von einem harten Konkurrenzkampf geprägter Arbeitsalltag zulässt, kommt Disha Kathuria ins Café Urban Solace, was so viel wie "städtischer Trost“ bedeutet. Hier treffen einander Studenten, Künstler, Designer, Architekten, IT-Experten und andere erfolgreiche oder aufstrebende Inderinnen und Inder, die aus allen Landesteilen nach Bangalore gekommen sind.

Die IT-Industrie, das Business Process Outsourcing und andere neue Servicesektoren haben Bangalore nachhaltig verändert. Der Bausektor expandiert. Neue U-Bahnen und Stadtautobahnen werden errichtet, die Zahl der modernen Bürogebäude, Wohnanlagen und Einkaufszentren wächst. Die Baubranche benötigt ebenso Zuwanderer wie der Servicesektor. Als der "Electronic City“ genannte Industriepark in den 1980er Jahren eröffnet wurde, lag er weit im Süden der Stadt. Heute ist das Gebiet über die Electronic City hinaus verbaut. Bangalore ist nach Mumbai und Delhi zur drittgrößten Stadt Indiens geworden. 1971 betrug die Bevölkerung noch weniger als 2 Millionen, laut der jüngsten Volkszählung lebten im Jahr 2011 8,4 Millionen Menschen in Bangalore. Mumbai zählt 12,5 Millionen Einwohner, die Metropolregion Mumbai 18 Millionen. In Delhi sind es 11 respektive 16,3 Millionen.

"In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine neue Art der Migration entstanden“, erklärt D. P. Singh, auf Migration spezialisierter Professor am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai. "Immer mehr bestens ausgebildete Inder ziehen aus Karrieregründen kreuz und quer durchs Land. Bangalore, aber auch Hyderabad, Navi Mumbai, eine Satellitenstadt von Mumbai, und der Großraum von Delhi bieten hervorragende Chancen für entsprechend qualifizierte Personen. Im IT-Sektor und in verwandten Branchen herrscht aber auch eine große Mobilität. Viele Leute bleiben ein, zwei Jahre in einer Firma und wandern dann weiter, je nachdem, wo sie die besten Jobangebote erhalten.“

Die IT-Industrie zählt heute zu den Pull-Faktoren. Die Push-Faktoren bleiben aber weiterhin vorrangig. Trotz des rasanten Wachstums der Städte leben zwei Drittel der insgesamt 1,2 Milliarden Inder weiterhin in einem ländlich-bäuerlichen Umfeld.

Neue Migrationsströme

Doch ein beträchtlicher Teil der Landwirtschaft ist geprägt von Kapitalmangel, viel zu kleinen Anbauflächen, stagnierenden Erträgen und unzureichenden Absatzstrukturen. Armut und Not zwingen unzählige Inder dazu, ihre Dörfer zu verlassen und anderswo nach Arbeit zu suchen. Auch wegen Naturkatastrophen oder Vertreibungen infolge von Rohstoffabbau müssen immer wieder Menschen ihre angestammten Orte verlassen. Dabei sind die kleinen und mittleren Städte für die Migranten weniger attraktiv. Die meisten wandern in die Millionenstädte. Denn irgendeine Arbeit findet man dort, irgendwie überlebt man, selbst wenn man nur im schlimmsten Slum unterkommt. In Mumbai lebt heute mehr als die Hälfte der 18 Millionen Einwohner in Slums.

Ein relativ neues Phänomen sind die Migrationsströme aus dem Nordosten von Indien in den Süden - eine Distanz von rund 3000 Kilometern. Diese Migration ist auf die politischen Konflikte zurückzuführen, die zum Teil bereits vor der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 ausbrachen. Ethisch, kulturell und sprachlich unterscheiden sich die Minderheiten im Nordosten stark von den übrigen Indern, weshalb viele nicht in den neuen indischen Staat integriert werden wollten und für ihre eigene Unabhängigkeit respektive Autonomie zu kämpfen begannen. "Wegen der Untergrundbewegungen hat sich die Wirtschaft im Nordosten wenig entwickelt. Dort lassen sich keine großen Unternehmen und keine Fabriken nieder, es entstehen weder Arbeitsplätze für hoch- noch für geringqualifizierte Menschen“, erzählt Esther Chinnu Zou, die selbst schweren Herzens ihre Heimatregion Manipur verlassen hat und nun in Bangalore Sozialwissenschaften studiert.

Infolge der Migrationsströme haben sich die Zusammensetzung der Bevölkerung und damit auch die Sprachlandschaften in den Metropolen stark verändert. Chauvinistische Gruppen haben Auftrieb erhalten. "Söhne-des-Bodens“-Bewegungen, wie sie in Indien genannt werden, beanspruchen Bangalore als die Stadt der Kannadigas, der Kannada-sprachigen Bevölkerung dieser Region. "Viele Zuwanderer können zwar gut Englisch und die Nationalsprache Hindi, aber kein Wort der Regionalsprache Kannada. Sie kommen sehr gut ohne Kannada aus“, erläutert die Historikerin Janaki Nair. "Die einen sehen das als positives Zeichen einer kosmopolitischen Stadt, die anderen wollen Grundkenntnisse von Kannada zur Pflicht machen“. "Söhne-des Bodens“-Bewegungen werfen den Zuwanderern vor, das kulturelle Gewebe von Bangalore zu zerstören und den Kannadigas die Arbeitsplätze wegzunehmen.

Hetzkampagnen und Zusammenstöße

Vergleichbare Vorwürfe werden in Mumbai seit Jahrzehnten gegen Zuwanderer erhoben. Die 1966 gegründete Shiv Sena Partei reklamiert Mumbai als die Stadt der Maratha-Kasten und der Regionalsprache Marathi. Zunächst waren die Südinder Ziel von Hetzkampagnen, in jüngster Zeit eher Nordinder aus den in der Ganges-Ebene gelegenen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar. Immer wieder ist es zu Konflikten gekommen, im Zuge derer Menschen verletzt und getötet, Häuser und Autos angezündet und erheblicher Sachschaden angerichtet wurde. "Ernsthafte Konflikte entstehen zumeist dann, wenn chauvinistische Parteien aus Eigeninteresse zu hetzen beginnen“, betont D. P. Singh. "Aber keine dieser Parteien interessiert sich dafür, welche Rolle die Zuwanderer für die Ökonomie der Stadt spielen, keine sucht nach Lösungen für konkrete wie etwa die Wohnungsfrage.“ Es fehlt an Masterplänen und einer konsequenten Stadtpolitik. In Mumbai wird gelegentlich der Ruf nach der Räumung aller Slums laut. Die Slumbewohner, heißt es dann, sollten an die Peripherie verlegt werden. Doch was wäre die Folge, fragt D. P. Singh? "Die Mittel- und Oberschicht könnte nicht leben ohne die vielen billigen Arbeitskräfte. Man kann ein paar Tausend vertreiben, aber nicht alle. Man ist auf sie angewiesen. Man könnte diesen Menschen ja mehr für ihre Arbeit bezahlen und soziale Wohnbauten für sie errichten. Aber das passiert nicht. Slum-Entwicklungsprojekte werden oft schlecht ausgeführt. Niemand macht sich Gedanken darüber, wie man den Migranten ein würdevolles Leben ermöglichen könnte.“

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