Indischer Geist für EU-Verfassung

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Ein künftiger Bundesstaat Europa wird gerne mit den Vereinigten Staaten verglichen und an den USA gemessen. Anton Pelinka schaut lieber nach Osten - und erblickt in Indien das bessere Modell für die Europäische Union.

Bundesstaat, Staatenbund, etwas drittes, völlig anderes? Bei der Suche nach der zukünftigen EU wird gerne nach den Vereinigten Staaten geschielt; im EU-Konvent wurde der "Geist von Philadelphia" als Vorbild beschworen: So wie es 1787 den US-Gründervätern gelungen ist, eine Verfassung aus dem Boden zu stampfen und damit den amerikanischen Bundesstaat zu begründen, so sollte im Konvent ein europäischer Geist für das zukünftige EU-Staatsgebilde Pate stehen.

Nicht nur nach dem Westen, auch nach Osten soll der Blick in diesem Verfassungsprozess gehen, meint hingegen Anton Pelinka. "In einer Zeit, in der Europa nach einer neuen Identität sucht, macht es Sinn, nach Indien zu schauen, um zu sehen, wie dort mit Vielfalt umgegangen wird", sagt der Innsbrucker Politikwissenschafter. Pelinka beschäftigt sich seit einer Gastprofessur an der Nehru-Universität New Delhi 1977 mit indischer Politik und hat jüngst ein Buch über die Eigenheiten indischer Demokratie geschrieben.

Pakistanische Sackgasse

Eigentlich widerspricht die indische Demokratie der Schulweisheit, sagt Pelinka. Als allgemeine Regel in den vergleichenden Politikwissenschaften gilt: Zuerst kommen wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und erst danach entstehen demokratische Regierungssysteme. In Indien ist es anders, in Indien ist es genau umgekehrt: Zuerst, 1947, sind Unabhängigkeit und Demokratie gekommen und erst danach und bis heute setzen der wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Aufholprozess ein. Indien ist seit über 50 Jahren eine stabile Demokratie - trotz oder wegen der großen Unterschiede in der indischen Gesellschaft? Pelinka plädiert für zweiteres: Indien vermeidet Eindeutigkeit - und hat damit Erfolg. Pakistan, das mit den gleichen Voraussetzungen in die Unabhängigkeit entlassen wurde, wollte Eindeutigkeit herstellen - und ist gescheitert. "Die EU soll die pakistanische Sackgasse meiden", empfiehlt Pelinka und wie Indien die Frage nach einer gemeinsamen Identität unbeantwortet lassen. Indiens Erfolgsrezept lautet "segmentierte Identitäten":

* Es gibt keine indische Sprache. Hindi ist zwar Staatssprache, aber zweite Staatssprache ist Englisch; dazu kommen noch 17 weitere Sprachen als Amtssprachen.

* Es gibt keine Staatsreligion. "Indien ist nicht Hindustan", erklärt Pelinka, "nationale Identität ist nicht religiöse Identität." Der Politologe ist sich des Hinduchauvinismus' bewusst, doch auch die regierenden Hindunationalisten (BJP) würden die "politische Kultur der Sichtbarmachung von Minderheiten fortsetzen". Prominentes Beispiel dafür ist die Wahl des muslimischen Tamilen Abdul Kalam zum Präsidenten Indiens. Außerdem zwingen die regional sehr unterschiedlich starken Parteien die Bundesregierung zu Ko- alitionen, sagt Pelinka. Das erkläre auch den "Zwang zur Mäßigung bei der regierenden BJP".

"Indien ist nicht Hindustan"

* Die dritte potenzielle Konfliktlinie in Indien ist die soziale Differenz: Laut indischer Verfassung ist das Kastensystem überwunden. Und es gibt "sehr viele und sehr deutliche Förderungen und positive Diskriminierung" für schlechter gestellte Gesellschaftsschichten, sagt Pelinka - ein Blick in die Heiratsannoncen der Zeitungen zeigt aber, dass "die Segmentierung nach Kaste und Religion nach wie vor sehr groß ist".

Sprachliche, religiöse und soziale Differenzen - mit diesen indischen Herausforderungen ist auch Europa konfrontiert. Diese gesellschaftliche Konstellation verbinde die EU viel mehr mit Indien als mit den USA, fügt Pelinka hinzu. Daher: "Wie Indien mit seiner Heterogenität auf demokratische Weise umgeht, sollte auch für Europa von Interesse sein."

Buchtipp:

DEMOCRACY INDIAN STYLE

Subhas Chandra Bose and the Creation of India's Political Culture. Von Anton Pelinka, Transaction Press, New Brunswick 2003, 285 Seiten, geb., $ 49,95

(deutsche Ausgabe soll 2004 erscheinen)

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