"Israel will das Land ohne sein Volk"

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"Was ist die wirkliche Absicht Israels, nach all dem, was gerade geschieht?" fragt eine 25-jährige Palästinenserin.

Nahezu jede palästinensische Familie hat eine Tasche vorbereitet, die all ihre Wertsachen beinhaltet: Reisepass, Geburtsurkunde, Staatsbürgerschaftsnachweis, akademische Urkunden, Schmuck, ein paar Familienfotos. Jede palästinensische Person lebt in der Furcht vor Tod, schwerer Verletzung oder davor, des Hauses, der Stadt oder des Landes verwiesen zu werden. Nachdem ich diese Erfahrung gemacht habe, ziehe ich den Tod einem Leben als ewiger ungewollter Flüchtling vor.

Wir verbringen unsere Tage, indem wir versuchen etwas vom Schicksal unserer Geliebten zu erfahren. Wir hören eine Explosion hier und eine andere dort. Wir kriechen auf dem Boden, um uns im sichersten Bereich des Hauses zu verstecken, sobald die Panzer rund um unsere Häuser wahllos zu schießen beginnen. Rauch und Feuer verdunkeln unsere Sicht und Gewehrsalven hallen durch die leeren Straßen - Tag und Nacht. Der Schlaf ist aus den Augen der Erwachsenen und Kinder verschwunden.

Seit Freitag, 29. März 2002, erleben die Bürger der Städte Ramallah und Al-Bireh zusammen mit den umliegenden Städten und Dörfern unerträgliche, schreckliche Situationen, die sie nie zuvor erlebt haben. Über 200 israelische Panzer erfinden jede Sekunde Wege, jeden Aspekt menschlichen Lebens in den Städten zu zerstören. Du brauchst nur ein palästinensischer Mann zu sein, egal ob Zivilist oder in Uniform, um als ein unmittelbares Ziel von israelischen Heckenschützen zu gelten. Frauen und Kinder werden als Ziele zweiter Wahl betrachtet. Hunderte palästinensische Männer im Alter zwischen 16 und 50 Jahren, sind auf öffentlichen Plätzen zusammengetrieben, stunden- und tagelang in Kälte und Regen stehengelassen worden, bevor sie in israelische Militärgefängnisse gezerrt wurden. Die Augen der Männer werden sofort verbunden, ihre Hände mit einem Kunststoffdraht am Rücken festgezurrt, bis sie zu bluten beginnen. Augenzeugen berichten, die Männer würden mit Tränengas malträtiert, sie würden gezwungen ihre Kleidung auszuziehen, von Jagdhunden angegriffen und gebissen. Die meisten Männer sind unschuldige palästinensische Zivilisten, die zufällig in der Nachbarschaft eines Gebäudes leben, das die israelischen Besatzer gerade besetzen. Jeder könnte ein Ziel sein. Ich habe von einigen Männern den Wunsch gehört, Kinder unter 16 oder ältere Männer über 50 zu sein, um der Erniedrigung, dem Schmerz, potenzieller Verletzung oder dem Tod zu entgehen.

Die meisten palästinensischen Familien haben immer Vorräte an Nahrung,tiefgefrorenes Fleisch und Brot für die Tage der Ausgangssperre zu Hause. Allerdings, egal wie viele Vorräte man hat, früher oder später gehen sie alle aus. Viele Familien betteln schon um ein Stück Brot. Israelische (Besatzungs)-Kräfte haben absichtlich alle elektrischen Leitungen abgeschnitten und Umspannwerke mit Bulldozern zerstört und bombardiert, zusätzlich zu den Wasserleitungen, so dass rund 50.000 palästinensische Zivilisten ohne Elektrizität, Wasser oder Nahrung sind. Rettungswägen wird nicht erlaubt, Kranke, Verletzte in die Krankenhäuser zu bringen, oder Hungrigen Hilfe zu bringen. Rettungswägen und Mediziner sind Lebensretter; weltweit die einzigen, die sich auch in Kriegszeiten bewegen dürfen. In Palästina ist das nicht der Fall. Viele Rettungswägen sind schon beschossen worden, Ärzte und Krankenschwestern wurden von den israelischen Besatzern getötet. Zig Körper liegen auf den Straßen und in zivilen Gebäuden, tot oder verblutend, und keiner darf zu ihnen.

Die Lebensumstände, in denen wir uns befinden, sind unerträglich. Wenn es früher ein paar palästinensische Jugendliche gab, die bereit waren, Gewaltakte gegen israelische Ziele zu verüben, so ist ihre Zahl mittlerweile enorm gestiegen. Jedoch die Mehrheit der palästinensischen Nation ist nach wie vor gegen Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung, betrachtet es aber als völlig legitim, gegen militärische israelische Ziele und Siedler vorzugehen, die ihr Land im Westjordanland und im Gaza-Streifen besetzen. Wir empfinden es als unser Recht, unser Land und Leben zu verteidigen und gegen die illegale Besetzung Widerstand zu leisten. Ein wachsender Prozentsatz der Palästinenser hat nichts mehr zu verlieren. Wenn es die Absicht Israels ist, den "Terrorismus mit der Wurzel auszureißen", indem es die USA auf Schritt und Tritt imitiert und zwei Dinge ungerechtfertigterweise vermischt - warum werden dann Kinder getötet, und Zivilisten belagert? Warum werden (Oliven-)Bäume mit Bulldozern entwurzelt, Straßen zerstört, Geschäfte geplündert und Banken ausgeraubt? Ist palästinensisches materielles Leben (selbst schon) eine Bedrohung? Ist (schon) seine Existenz auch ein Terrorakt?

Alle töten!

Der militärische Einmarsch und die Besetzung, die gegen eine überwiegend zivile und friedliche Nation begangen wird, ist Gewalt und ein ungerechtfertigter Akt des Terrors in sich selbst. Was will Israel? Wenn es nach Frieden suchte, ist es derzeit weit davon entfernt, dies zu tun. Wenn es versuchte, seine Existenz zu sichern, schafft es sich nun im Gegenteil mehr Feinde, die sein Existenzrecht herausfordern. Gewalt und Terror werden mit denselben Mitteln beantwortet. Egal wie lange Israel beabsichtigt, palästinensisches Land zu besetzen, egal wie viele Palästinenser getötet, verletzt, eingesperrt oder ins Exil verbannt werden, es wird nie (mehr) einen friedlichen Augenblick für beide Völker dieser Region geben. Der einzige Weg, die Palästinenser zum Schweigen zu bringen, ist überhaupt jede Person dieser Nation zu töten, sei es ein Kind, ein Mann, eine Frau oder ein alter Mensch, der in Palästina oder im Exil lebt. Man muss sich einfach fragen, was die wirkliche Absicht Israels ist, nach all dem, was gerade geschieht. Eines ist sicher: es will das Land ohne sein Volk! Gott weiß, wie es dies zu erreichen wünscht!

Die Autorin, Tochter der palästinensischen Friedensaktivistin Sumaya Farhat Naser, lebt in Birzeit, Palästina.

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