Ja, tatsächlich, "ES IST ZEIT"

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Es war das Thema, das die Wahl entschied. Seit Monaten vermag nichts das Land so zu emotionalisieren wie die omnipräsente Migrationsthematik. Was bereits ahnte, wer während der vergangenen Wochen politisch diskutierte oder die Resonanz auf die TV-Duelle vor der Wahl verfolgte, goss eine Umfrage der Institute SORA und ISA für den ORF auch in Zahlen: 55 Prozent der ÖVP-Wähler gaben an, im Wahlkampf über "Asyl und Integration sehr diskutiert" zu haben, bei den FPÖ-Wählern waren es gar 88 Prozent. Das Themenkonglomerat war damit bei Wählern der beiden großen Zugewinner des 15. Oktober das mit Abstand meistdiskutierte Politikum. Andere Themen wie Soziales, Wirtschaft, Arbeitsplätze oder Steuern landeten mit deutlichem Respektabstand auf den Plätzen dahinter.

Das Meta-Thema Migration war also das entscheidende Wahlmotiv. Doch entspricht dieser Fokus auch den tatsächlichen politischen Dimensionen? "Derzeit gibt es in Österreich eigentlich kein 'Migrationsthema'" sagte Erhard Busek vergangene Woche in einem Interview in dieser Zeitung. Wie kommt der ehemalige ÖVP-Chef und Vizekanzler zu dieser Diagnose? Die einfache Antwort: Wenige Monate nach den großen Flüchtlingsbewegungen im Sommer und Herbst 2015 wurde bekanntlich mithilfe des Türkei-Abkommens und der "Obergrenzen-Regelung" die zentrale Fluchtroute über den Westbalkan geschlossen. Seither finden immer weniger Menschen den Weg nach Österreich. Die etwas detailliertere Antwort: Stellten im Rekordjahr 2015 noch knapp 90.000 Menschen hierzulande einen Asylantrag, waren es 2016 mit 42.000 weniger als die Hälfte. Im ersten Halbjahr 2017 lag die Zahl bei gut 12.000 Anträgen und ging zum Vergleichszeitraum im Vorjahr abermals um die Hälfte zurück. Die Zahlen liegen damit heute in einem ähnlichen Bereich wie 2004.

Politisches "One-trick Pony"

Das hinderte den voraussichtlich baldigen Bundeskanzler Sebastian Kurz aber nicht, sich im Wahlkampf als eine Art politisches "One-trick Pony" zu versuchen, das - befragt zu verschiedensten Themen von Bildung über Gesundheit bis zu Wirtschaft - immer wieder auf sein auserkorenes Thema Nummer eins zurückkam und praktisch jeder politischen Sachfrage den "Migrations-Spin" umhängte. "Stay on message" nennen Politikberater diese Strategie. Eine Strategie, die angesichts der dominierenden Stimmungslage Wahlerfolg bringen würde, wie Kurz und seine Vertrauten erkannten. Denn in der Bevölkerung herrscht seit Jahren eine diffuse Abstiegsangst, die sich aus vielfältigen Faktoren wie fundamentalen Umbrüchen am Arbeitsmarkt, der zunehmenden Komplexität einer globalisierten Welt und natürlichen Grenzen ökonomischen Wachstums speist; und sich mit Skepsis bis unverhohlener Ablehnung gegenüber Zuwanderung und "dem Islam" vermischt.

Als Projektionsfläche, als Katalysator von Zukunftsunsicherheit und Abstiegsangst bleiben in immer breiteren Bevölkerungsschichten aber -scheinbar monokausal - Migranten und Flüchtlinge übrig. Kaum nötig zu erwähnen, dass politische Kräfte diese Projektionsfläche nicht nur instrumentalisierten, sondern aus politischem Kalkül das Meinungsklima aktiv mitproduzierten. Verhältnismäßigkeiten blieben zusehends auf der Strecke. Die Angst wurde kopflos.

Sozialstaat-Sargnagel Mindestsicherung?

Nun ist Migration ohne Zweifel eines der zentralen Themen unserer Zeit. Denn nicht nur Kriege und Konflikte in nunmehrigen "Failed States" wie Syrien und Afghanistan werden auch weiterhin unzählige Menschen dazu bewegen, einen Weg nach Europa zu suchen; auch die prekäre wirtschaftliche Lage in vielen Ländern des globalen Südens oder Folgen des Klimawandels wie unfruchtbar gewordene Felder und der damit verbundene Wegfall von Lebensgrundlagen. Ebenso ist die vielbeschworene Integration jener, die bereits nach Österreich gekommen sind, fraglos ein Thema von hoher politischer Relevanz. Aber für beide Teilaspekte der Thematik war im Wahlkampf von nachhaltigen Konzepten praktisch nichts zu hören. Für eine künftige Bundesregierung wird es jedenfalls nicht reichen, diese Themen floskelhaft und mit Fokus auf die Vergangenheit ("Schließung der Westbalkanroute") abzuhandeln. Es wird Vorschläge zu langfristigen Maßnahmen brauchen. Ohne die oft zitierte Bekämpfung von Fluchtursachen in den Herkunftsländern dürften nachhaltige Auswirkungen sich zudem in Grenzen halten.

Ein markantes Beispiel, wie gefühlte und tatsächliche Realität politischer wie ökonomischer Dimensionen auseinanderklaffen können, liefert eines der zentral propagierten Wahlkampfthemen: die bedarfsorientierte Mindestsicherung für nicht-österreichische Staatsbürger. Neben vielem anderen wurde sie auch für eine Gefährdung des österreichischen Sozialstaats verantwortlich gemacht. Doch einer faktischen Prüfung hält diese These nicht stand: Die Kosten für die Mindestsicherung machen insgesamt 0,8 Prozent der Sozialausgaben aus, die Hälfte davon entfällt mit 0,4 Prozent auf nicht-österreichische Staatsbürger (der größte Posten im Bereich Soziales sind übrigens die Bereiche Alter und Gesundheitsversorgung, die gemeinsam für 70 Prozent der Sozialausgaben verantwortlich sind). Die Mindestsicherung für ausländische Staatsbürger macht damit weniger als 0,2 Prozent des Gesamtbudgets aus.

Von jenen Geldbeträgen, die dem Fiskus am anderen Ende der Einkommens-und Vermögensskala entgehen, war im Wahlkampf dagegen nichts zu hören. Auch hier hilft eine Zahl zur Einordnung: Allein durch Steuervermeidung von multinationalen Unternehmen gehen dem österreichischen Staat geschätzte 540 Millionen Euro verloren, wie eine Studie des zur UNO gehörenden Instituts UNU-WIDER ergab. Nur mit diesem Betrag könnte fast die gesamte Mindestsicherung gegenfinanziert werden. Zu Steuervermeidung und -hinterziehung durch Privatpersonen existieren hingegen keine belastbaren Schätzungen für Österreich. Die Dimensionen, die Enthüllungen wie die "Panama Papers" auch einer breiteren Öffentlichkeit veranschaulichten, legen aber deutlich höhere Implikationen für den österreichischen Sozialstaat nahe, als der Budgetposten bedarfsorientierte Mindestsicherung.

Den Kopf wieder aufsetzen

Globaler Steuerflucht beizukommen, ist freilich keine einfache Aufgabe -und kann überdies nur im internationalen Schulterschluss fruchten. Denn multinationale Konzerne wie Google oder Apple schieben ihre Gewinne so lange länderübergreifend hin und her, bis sie in einem Niedrigsteuerland geltend gemacht werden. Die Bekämpfung privater Steuerflucht ist für Gesetzgeber kaum weniger herausfordernd. Resultieren doch gerade aus hohen Einkommen und Vermögen auch die finanziellen Ressourcen, etwa Kapitalerträge mittels Treuhändern und Briefkastenfirmen vor dem heimischen Fiskus zu verbergen -teils auf legale, teils auf illegale Weise. So wie Cyberkriminelle den Behörden mit technischen Tricks häufig einen Schritt voraus sind, so hinken auch Steuerbehörden den kreativen Konstruktionen einer globalisierten Wirtschafts-und Finanzwelt meist hinterher. Bildlich gesprochen: Steuervermeider flüchten im modernen Porsche, Steuerbehörden nehmen die Verfolgung im in die Jahre gekommenen VW Polo auf. Das Forcieren EU-weiter Bemühungen zur Schließung von Steueroasen müsste daher ein zentrales Anliegen der heimischen Politik sein.

Die Liste weiterer Zukunftsthemen, die konkreter Lösungsvorschläge harren, ist lang: Welche Perspektiven gibt es für ökonomisches Wachstum angesichts zunehmend gesättigter Märkte? Wie begegnet man der Digitalisierung, die weiter enorme Umbrüche am Arbeitsmarkt bewirken wird? Was erweckt das Bildungssystem aus seiner jahrzehntelangen Schockstarre? Wie kann die hohe Staatsverschuldung reduziert werden, ohne den bewährten sozialen Frieden durch steigende soziale Unterschiede zu gefährden? Welche Maßnahmen werden gegen den Klimawandel ergriffen? Keine dieser Fragen lässt sich mit dem Thema Migration beantworten. Die Angst wurde kopflos. Es ist Zeit, den Kopf wieder aufzusetzen.

Als Projektionsfläche, als Katalysator von Unsicherheit und Abstiegsangst bleiben -scheinbar monokausal -Migranten und Flüchtlinge übrig.

Steuervermeider flüchten im modernen Porsche, Behörden nehmen die Verfolgung im alten VW Polo auf. Bekämpfung von Steueroasen muss zu einem zentralen politischen Anliegen werden.

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