Jahr der Stürme und Beben

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Der Jahresrückblick der "Münchener Rück" auf die Naturkatastrophen 1999

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Der Jahresrückblick der "Münchener Rück" auf die Naturkatastrophen 1999

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Zum Thema. Die "Münchener Rück", der weltweit größte Rückversicherer, verfolgt die Entwicklung der Naturkatastrophen genauestens. Zum Welt-Umwelttag am 5. Juni dokumentiert die Furche den Bericht der "Rück" für das Vorjahr: Die Anzahl der Elementarereignisse hat 1999 einen Rekordwert erreicht.

In ihrem neuesten Bericht über die Naturkatastrophen des abgelaufenen Jahres stellt die Forschungsgruppe Geowissenschaften der Münchener Rück wiederum einen Anstieg des langfristigen Schadentrends fest. Die Analyse der Schadenereignisse im letzten Jahr des Jahrhunderts ergab: * Die Anzahl der erfassten Elementarschadenereignisse lag mit 755 deutlich über dem bisherigen Höchstwert von 702 (1998) und dem langjährigen Durchschnitt von 600. Zehn Ereignisse haben "historisches" Ausmaß erreicht und werden in der Studie näher beleuchtet.

* Die versicherten Schäden ergaben mit über 22 Milliarden US-Dollar die zweithöchste Schadensumme der neunziger Jahre (nur übertroffen 1992: Hurrikan Andrew kostete 17 Milliarden Dollar). Die Dezemberorkane in West- und Mitteleuropa (Anatol, Lothar und Martin) waren mit fünf bis sechs Milliarden Dollar die Spitzenreiter, gefolgt von Taifun Bart (Japan, September), Hurrikan Floyd (USA und Bahamas, September) und einer Tornadoserie in den USA (Oklahoma, Mai).

Seit den 60er-Jahren verdreifacht Der Hagelsturm von Sydney Mitte April war mit einer Milliarde Dollar die teuerste Wetterkatastrophe in der Versicherungsgeschichte Australiens. Die katastrophalen Erdbeben in der Türkei und Taiwan haben in erster Linie die industrielle Feuerversicherung betroffen; ansonsten hielten sich dort die Schäden für die Versicherungswirtschaft in Grenzen.

* Die volkswirtschaftlichen Schäden von rund 100 Milliarden Dollar wurden bisher nur 1995 mit dem Kobe-Erdbeben übertroffen. Hier dominierten die beiden Erdbeben in der Türkei (12 Milliarden Dollar) und in Taiwan (14 Milliarden Dollar) sowie die Unwetter und Überschwemmungen in Venezuela (15 Milliarden Dollar).

* Insgesamt starben 1999 bei Naturkatastrophen mindestens 70.000, möglicherweise sogar bis zu 100.000 Menschen. Das ist der höchste Wert seit 1991. So kamen bei den Erdbeben in der Türkei im August und November mehr als 20.000 Menschen ums Leben.

Der Zyklon 05 B, der Ende Oktober im Golf von Bengalen wütete, tötete in Orissa (Indien) bis zu 30.000 Menschen. Bei sintflutartigen Regenfällen kamen im Dezember in Venezuela wahrscheinlich über 30.000 Menschen in den Schlammlawinen und Erdrutschen um.

Unter den weltweit erfassten Katastrophen verursachten Stürme 80 Prozent der versicherten Schäden, während Erdbeben zehn Prozent, Überschwemmungen sechs Prozent und sonstige Ereignisse wie Waldbrände, Frost oder Hitzewellen rund vier Prozent ausmachten.

Auch bei der Zahl der Schadenereignisse dominierten die Stürme (255), während sich Überschwemmungen und sonstige Ereignisse die Waage hielten (jeweils rund 190). Mit 111 registrierten Ereignissen lag die Zahl geologischer Katastrophen (Erdbeben, Vulkanausbrüche) auf durchschnittlichem Niveau.

Bei den langfristigen Schadentrends sind auch zum Wechsel des Millenniums keine Anzeichen für eine Abschwächung oder gar Wende zu erkennen. Vergleicht man die Zahlen der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts mit denen der 60er-Jahre, so ist die Zahl der großen Naturkatastrophen auf das Dreifache gestiegen, die volkswirtschaftlichen Schäden sind - inflationsbereinigt - auf mehr als das Achtfache und die versicherten Schäden sogar auf das 16-fache gestiegen.

Obwohl auch im vergangenen Jahr eine Reihe atmosphärisch bedingter Extremereignisse - wie beispielsweise Tornadoserien in den USA, Überschwemmungen und Erdrutsche in Lateinamerika und Südostasien sowie die verwüstenden Dezemberstürme in Mitteleuropa - aufgetreten sind, kann die sich immer klarer abzeichnende Klimaänderung keineswegs allein für die ständig steigenden Belastungen aus Naturkatastrophen verantwortlich gemacht werden.

Nach wie vor spielen andere Faktoren, etwa die Bevölkerungs- und Wertezunahme in Großstadträumen und insbesondere die Nutzung hoch ex-ponierter Regionen, die Hauptrolle. Letzteres wird besonders am Beispiel der Lawinenserie zu Beginn des Jahres in den Alpen deutlich. Tausende Lawinen gingen in den Tourismusgebieten der österreichischen und Schweizer Alpen ab und rissen im Februar und März mehr als 100 Menschen in den Tod.

Dass moderne Industriegesellschaften eine deutlich erhöhte Katastrophenanfälligkeit aufweisen, haben die Erdbeben in der Türkei (17.8.) und auf Taiwan (21.9.) gezeigt.

Mit den Erdbeben von Armenia (Kolumbien), Huajuapan (Mexiko), Izmit und Düzce (Türkei), Athen (Griechenland) und Chi-chi (Taiwan) war 1999 das am stärksten von Erdbebenkatastrophen geprägte Jahr seit 1976 - trotz großer Einzelereignisse wie Mexiko 1985, Northridge (Kalifornien) 1994 und Kobe (Japan) 1995.

Eine Lawinenserie in den Alpen Das Bebengebiet in der Türkei war bereits seit 1979 als sogenannte "seismische Lücke", das heißt als Gebiet erhöhter Erdbebenwahrscheinlichkeit, bekannt. Praktische Lehren wurden daraus nicht gezogen, obwohl der betroffene Raum 40 Prozent der industriellen Produktion des Landes erwirtschaftet. Angesichts einer weiteren, südlich von Istanbul diagnostizierten seismischen Lücke erscheinen eine langfristig orientierte Planung und vor allem deren kompromisslose Umsetzung dringlicher denn je, um einer Katastrophe unabsehbaren Ausmaßes in Istanbul selbst vorzubeugen.

Eine andere Situation lag in Athen und Taiwan vor, allerdings jeweils in etwas unterschiedlicher Weise: Gefährdungsstudien für Griechenland hatten die Möglichkeit von Beben der jetzt beobachteten Stärke im Großraum Athen nicht ausgeschlossen, aber die Wahrscheinlichkeit dafür als sehr gering angesetzt. Noch größer war die Überraschung über die hohe Magnitude von 7,6 für ein Erdbeben in Zentraltaiwan.

In Taiwan wurde mit dem Hochtechnologie-Industriepark von Hsin-chu eine Schlüsselindustrie des Landes getroffen. Die Stromversorgung des Parks hing an einer einzigen Überlandleitung, die an einer schwer zugänglichen Stelle unterbrochen wurde. Die vorhandenen Notstromaggregate reichten nicht aus, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Die Folgen: Erstens war die gesamte in Bearbeitung befindliche Chipproduktion verloren und zweitens konnten die für den Arbeitsprozess erforderlichen Reinstraumbedingungen teilweise mehrere Wochen nicht gewährleistet werden.

Ein weiteres Katastrophenporträt in dem Bericht behandelt die großen Winterstürme des vergangenen Dezembers, die in erster Linie Dänemark (Orkan Anatol, 3./4.12.), Frankreich, Deutschland und die Schweiz (Orkane Lothar und Martin, 26. und 27./28.12.) betrafen. Die beiden Orkane Lothar und Martin allein forderten 140 Menschenleben; der versicherte Schaden aus beiden Ereignissen beträgt voraussichtlich zusammen vier bis sechs Milliarden Dollar.

Nach der Wintersturmserie von 1990 - Namen wie Daria, Vivian und Wiebke sind vielen noch geläufig -, die die Assekuranz damals mit rund zehn Milliarden Dollar belastete, ist dies der bisher zweitgrößte versicherte Sturmschaden in Europa. Die gesamten volkswirtschaftlichen Schäden (einschließlich der Zerstörungen an Strom- und Telekommunikationsnetzen sowie in der Forstwirtschaft) werden auf über neun Milliarden Dollar geschätzt.

Meteorologische Bomben Die beiden Orkantiefs fallen aufgrund ihrer außerordentlich raschen Verstärkung in die Kategorie "meteorologische Bomben". Auch der Orkan Anatol, der in Dänemark zu Rekordschäden führte und zusätzlich Teile von Großbritannien, Norddeutschland und Schweden erfasste (Belastungen der Versicherungswirtschaft: 400 Millionen in Dänemark, 100 Millionen Dollar in den übrigen betroffenen Ländern), entstand aus einer sehr raschen Verstärkung des sturmauslösenden Tiefdruckgebiets.

Das Auftreten mehrerer außertropischer Stürme als "Serie" innerhalb kurzer Zeit ist nichts Ungewöhnliches, wie zuletzt 1990 die Reihe von damals insgesamt acht Orkanen über Europa belegte. Nach Untersuchungen der Forschungsgruppe Geowissenschaften der Münchener Rück liegt die "Wiederkehrperiode" für einen versicherten Schaden wie bei Orkan Lothar (etwa drei bis vier Milliarden Dollar) in Europa bei rund zehn bis 15 Jahren. Den bisher mit 4,5 Milliarden Dollar (in Werten von 1990) höchsten versicherten Sturmschaden in Europa verursachte der Orkan "Daria" 1990.

Das Jahr 1999 liegt ganz im langjährigen Trend steil ansteigender Naturkatastrophenschäden, den die Wissenschaftler der Forschungsgruppe Geowissenschaften der Münchener Rück bereits in den achtziger Jahren prognostiziert haben. Daran konnte trotz aller Bemühungen auch die Internationale Dekade für Naturkatastrophenvorsorge (IDNDR), die jetzt zu Ende gegangen ist, nichts Grundsätzliches ändern.

Ziel dieser von der UNO ins Leben gerufenen Initiative war es, durch internationale Zusammenarbeit den Auswirkungen großer Naturkatastrophen besser entgegenzuwirken. Immerhin konnten aber in einigen häufig betroffenen Gebieten, beispielsweise in Bangladesch, Erfolge verzeichnet werden. Die Anstrengungen, das Katastrophenmanagement, die Frühwarnung und die Vorbeugung zu verbessern, werden glücklicherweise in vielen Ländern fortgeführt.

Vor dem Hintergrund des globalen Bevölkerungs- und Städtewachstums und der Klimaänderung mit all ihren Auswirkungen können auch künftig keine durchschlagenden Erfolge erwartet werden. Wenn nämlich die meteorologischen Extreme wie Starkregen, Stürme und Hitzewellen weiter zunehmen und gleichzeitig der Meeresspiegel beschleunigt ansteigt, sind viele dicht besiedelte Regionen der Erde unmittelbar in Gefahr.

Weitere Information: Homepage: http://www.muenchenerrueck.de/

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