Jeder ein Risiko, keiner mehr harmlos

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Normal werden Gesetze dieses Gewichts sorgfältig beraten. Das neue parlamentarische Verfahren heißt aber "durchziehen".

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Normal werden Gesetze dieses Gewichts sorgfältig beraten. Das neue parlamentarische Verfahren heißt aber "durchziehen".

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Die Debatte. Unterwegs zum Überwachungsstaat?

zum thema Observieren ohne konkreten Verdacht Der von den Grünen geforderte Unterausschuss zur erweiterten Gefahrenerforschung im Sicherheitspolizeigesetz wurde von den Koalitionsparteien am Dienstag vergangener Woche abgelehnt. Das ist Öl auf das Feuer, das der grüne Sicherheitsexperte Peter Pilz mit der Novelle zum Sicherheitspolizeigesetz entfacht sieht. Mit dieser Novelle, die Sicherheitsbehörden in die Lage versetzt, Personen oder Gruppen auch dann zu überwachen, wenn gegen sie kein konkreter Tatverdacht vorliegt, ist für Pilz der Schritt vom Rechts- zum Überwachungsstaat getan. ÖVP-Sicherheitssprecher Paul Kiss weist die Vorwürfe zurück. Es gehe bei der erweiterten Gefahrenerforschung vor allem um den Schutz vor Organisierter Kriminalität. WM Die Regierung will "erweiterte Gefahrenerforschung" betreiben. Das wollte schon die letzte Koalition, aber irgendwie ist das dann immer wieder im Parlament hängengeblieben. Die SPÖ wollte zwar, aber nicht so recht. Jetzt zeigt eine neue Regierung, dass sie es ernster meint. Die Gefahren müssen erforscht werden, und zwar sofort.

Welche Gefahren? Die Hochsicherheitspolitiker der Koalition zeigen schaudernd auf die "Organisierte Kriminalität". Aber genau um die geht es nicht. Im neuen Gesetz soll gerade der Begriff "Organisierte Kriminalität" durch einen anderen ersetzt werden: die "kriminelle Verbindung". Die Erläuterungen zur Novelle verraten, wer gemeint ist: "religiöse und weltanschauliche Gruppierungen". Es geht um Politik. Und damit geht es um das politische Hauptvorhaben der Regierung: jedes politische Risiko im "Vorfeld" auszuschalten.

Ein Regierungswechsel ist einer der wichtigsten Normalfälle einer Demokratie. Machtübernahme heißt mehr. Wer nicht nur die Regierung, sondern die ganze Macht übernehmen will, der versucht, Schlüsselstellen zu besetzen und Widerstand auszuschalten. Einzig in diesem Bereich arbeitet die Regierung mit hohem Tempo. Zivildienst und Bürgerinitiativen wurden erfolgreich angegriffen, der ORF in Rekordzeit auf Linie gebracht. Strategische Positionen von ÖIAG bis Datenschutzrat wurden mit verlässlichen Leuten besetzt. Der Opposition, die den nationalen Schulterschluss verweigert, droht der Justizminister offen mit Strafmaßnahmen. Und jetzt kommen die Überwachungsgesetze in den Nationalrat.

In Zeiten des alten Rechtsstaats galt ein einfaches Prinzip für Polizei und Justiz: Ein konkreter Tatverdacht wird polizeilich untersucht, dann entscheidet ein Richter, ob Anklage erhoben wird. Die Zeiten ändern sich. Der Tatverdacht wird durch einen neuen Kernbegriff ersetzt: "Risiko". Die Glaubenssätze der neuen Sicherheitspolitik lauten: "Überall kann etwas passieren" und "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten". Jeder ist ein mögliches Risiko. Jeder muss beweisen, dass er harmlos ist. Die Unschuldsvermutung wird durch die Verdächtigungsvermutung ersetzt.

Wer entscheidet nun, was eine "Gefahr" und eine "kriminelle Verbindung" ist? Das Gesetz soll bewusst vage bleiben. Radikale Tierschützer passen ebenso hinein wie Exilkurden oder religiöse Minderheiten. Es ermächtigt die Staatspolizei, nach eigenem Gusto Menschen und Gruppen zu Gefahren zu erklären. Letztlich wird die politische Führung des Ressorts die Linie vorgeben. ÖVP und FPÖ haben in den letzten Wochen klargemacht, wen sie für gefährlich halten.

Die Ermächtigungsparagrafen des Sicherheitspolizeigesetzes passen zum neuen System der Sicherheitsüberprüfungen. Erstmals erhält die Staatspolizei Zugriff zu allen Daten öffentlicher Körperschaften. Finanzamt, Sozialversicherung, Meldeamt - alles steht offen. "Risikopersonen" müssen nicht mehr mühevoll einzeln gesucht werden. In Zukunft werden sie errastert.

Gleichzeitig mit der Novelle zum Sicherheitspolizeigesetz soll der Nationalrat ein Ermächtigungsgesetz für die militärischen Dienste beschließen. Das Militärbefugnisgesetz verpflichtet Heeresnachrichtenamt und Abwehramt, kritische Journalisten und Autoren ebenso zu überwachen wie politische Kritik an Bundesheer und Landesverteidigung.

Anfang Juli soll alles beschlossen werden. Im Normalfall werden Gesetze dieses Gewichts in einem Unterausschuss mit Experten sorgfältig beraten und geprüft. Aber längst ist nichts mehr normal. Das neue parlamentarische Verfahren heißt "durchziehen". Ein paar Diskussionsrunden, vielleicht eine kurze Zurechtweisung durch den Minister, Abstimmung, fertig. Dann können Mikrofone ausgepackt und verdeckte Ermittler plaziert werden. Wenn im Juni der Widerstand nicht doch zu groß wird.

Der Autor ist Nationalratabgeordneter und Sicherheitssprecher der Grünen.

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