"Jedes Wochenende wird geschossen..."

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Während die hohe Politik die Vor- und Nachteile des Dayton-Abkommens diskutiert, fürchten die Menschen in Srebrenica den Winter und schießwütige Serben. Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris der Vertrag von Dayton unterzeichnet und damit der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet. Am Tag zuvor wurde in Royaumont bei Paris die "Erklärung über den Prozess der Stabilität und gute Nachbarschaft" abgesegnet, die der Anstoß zu Dialog und Vertrauen, zu Versöhnung und regionaler Zusammenarbeit hätte sein sollen. Zehn Jahre nach diesen Verträgen ist klar: Dem Anstoß ist keine Bewegung in diese Richtung gefolgt - der Friede in Ex-Jugoslawien ist ein "negativer Friede" geblieben. Redaktion: Wolfgang Machreich

Die Wildschweine verwüsten unsere in Handarbeit angelegten Maisfelder, weil wir keine Zäune haben", erzählt Zemka Zilic´, die gemeinsam mit ihrem Mann Halid und den Söhnen Aldin und Alen in Sjedac´e lebt. Der Weiler gehört zur Gemeinde Srebrenica; von der Stadt fährt man mit dem Auto eine Dreiviertelstunde durch eine fast menschenleere Gegend, vorbei an zerschossenen, ausgebrannten Häusern, durch Wälder, in denen Schilder mit Totenköpfen vor Minen warnen. Das Anwesen von Zemka und ihrer Familie ist wunderschön gelegen, mit Blick auf den Stausee Peruc´acÇko Jezero.

Doch die Idylle trügt: Der See bildet die Grenze zu Serbien, die Wochenendhäuschen am Ufer sind an sonnigen Wochenenden gut besucht. "Die Serben trinken und provozieren", sagt Zemka. Und: "Sie schießen auf uns." Die muslimische Familie, drei Brüder mit ihren Ehefrauen und fünf Kindern, eine Schwester, eine Tante mit Ehemann und Sohn leben in vier Häusern nebeneinander - sie alle haben Angst. Weil das Grauen des Krieges mit jedem Schuss zurückkommt: die Bilder von den Leichen der bosniakischen Männer, die Erinnerungen an das uno-Hauptquartier in PotocÇari, wo die Frauen von den Männer getrennt wurden, die einen in die Flüchtlingslager und die anderen zum Erschießen gebracht wurden.

Neue Massengräber entdeckt

Zehn Jahre nach dem Dayton-Abkommen fällt die Bilanz ernüchternd aus: Die Schweizer Publizistin Gret Haller, die unmittelbar nach dem Krieg als Menschenrechtsbeauftragte der osze in Bosnien und Herzegowina war, stellte kürzlich fest, dass sich die Situation seit dem Krieg in einigen Bereichen sogar verschlimmert habe, weil "das Abkommen von Dayton keinen Raum gelassen hat, um aus der ethnischen Identität eine Identität der Bürgerinnen und Bürger zu machen".

Halid, der Ehemann von Zemka, ist vom Krieg traumatisiert, hat ein Herzleiden. Ein Handwerker, den der Krieg zum Bauern gemacht hat, der den guten Zeiten vor dem Krieg nachtrauert, dem nicht nur die Maschinen fehlen, um das Land zu bebauen, sondern auch die Energie und das Wissen. "Wir sind zurückgekommen, weil wir keine Alternative hatten, keinen Beruf, keine Arbeitsstelle, kein Geld", sagt Zemka Zilic´. Geblieben ist das Grundstück und die Ruinen der alten Häuser, die nicht abgeräumt werden können, weil sie vielleicht vermint sind.

Von Frieden und Versöhnung ist in Srebrenica nicht viel zu spüren. Die muslimischen Menschen erzählen geschockt von den Ereignissen von 1995, als in der ehemaligen uno-Schutzzone Srebrenica an die 10.000 bosniakische Männer von serbischen Nationalisten ermordet wurden. Viele vermissen noch immer ihre Ehemänner, Söhne, Brüder, Väter, regelmäßig werden neue Massengräber gefunden, geöffnet und die Leichenteile zur dna-Analyse nach Tuzla gebracht.

Die serbische Bevölkerung in Srebrenica (sie bildet mit etwa 60 Prozent die Mehrheit) will nicht über den Krieg reden, nicht ans Massaker erinnert werden. "Hört auf mit diesen Fragen, das macht uns müde", sagt die 33-jährige Mirjana Jovanovic´. Und: "Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Wir wollen leben!" Mirjana Jovanovic´ lebt mit ihrem Mann Miroslav und ihrer Tochter Dunja in einer winzigen Stadtwohnung, sucht verzweifelt Arbeit, liebt ihre Familie abgöttisch und sorgt sich um ihren Mann, der als Minenräumer arbeitet, weil er keinen anderen Job findet.

Mirjana Jovanovic´ ist nicht die einzige, die verzweifelt auf Arbeit hofft, sich immer wieder in der Gemeinde nach neuen Stellen erkundigt. Die Arbeitslosigkeit liegt in Srebrenica bei 80 Prozent. Immerhin, seit Anfang November produziert eine kleine Fabrik Kekse, Kuchen und Eisspezialitäten, die in die Schweiz, später auch nach Dänemark, Belgien und Deutschland exportiert werden sollen. Zudem wurde ein Verein für Selbstbeschäftigung gegründet, der jungen Menschen hilft, Kleinbetriebe auf die Beine zu stellen. Die Wirtschaftsförderer der Gemeinde geben sich optimistisch, sprechen von 300 neuen Arbeitsplätzen, von Kooperationspartnern, von Geflügelfarmen, von Investitionen.

Fortschritte im Gedenkjahr

Ein wenig Fortschritt hat auch dieses Gedenkjahr gebracht: Die Hauptstraße in der Stadt ist neu asphaltiert, jetzt werden Wasserleitungen verlegt, das Kino ist neu aufgebaut und zum Jugendlokal umfunktioniert worden, im Kulturzentrum ist die Redaktion für eine unabhängige Internetzeitung eingerichtet worden. Doch Srebrenica scheint diese Hilfe wie ein Schwamm aufzusaugen. Restlos. Erfolglos. Über der Stadt liegt dieselbe Trostlosigkeit wie vor einem Jahr. Skepsis, Misstrauen und Hass sind immer noch spürbar. Zum Beispiel dann, wenn der kleine Safet Jusufovic´ erzählt, wie "die Tschetniks" seinen Hund überfahren und "tot gemacht" haben. Oder wenn ein serbischer Primarschüler in Srebrenica sagt, er wäre lieber in Serbien. "Dort ist es einfach schöner, alles ist besser. Hier gehe ich nur deshalb gerne zur Schule, weil wir mehr sind als die anderen. Viel mehr."

Die Autorin ist freie Journalistin und hat in den letzten Jahren öfters Bosnien und Herzegowina bereist.

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