Jenseits des Bürgerlichen

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Dieser Tage bei einem Vortrag: Der deutsche Verfassungsrichter Udo di Fabio beschreibt, was unter Bürgerlichkeit zu verstehen sei. Es handle sich um eine Kultur der Selbstverantwortung wie auch der Selbstdisziplin; um die geistige Autonomie des Individuums wie auch um die Verlässlichkeit von Institutionen; um eine Kultur des Engagements für die Gemeinschaft wie auch der Gelassenheit gegenüber Aktualitäten. Natürlich sei das herkömmliche Bürgertum dahingeschwunden, dennoch brauche man diese Wertewelt.

Di Fabio hat schon Recht. Aber der Appell wird nichts helfen. Gibt es Bürgerlichkeit ohne Bürgertum? Ohne eine sozialstrukturelle Verankerung? Ohne ein Milieu, in dem diese Weltsicht gelebt wird?

Der Mainstream - linker wie rechter Prägung - geht in die Gegenrichtung. Man will Spontaneität, nicht Selbstdisziplin; Spaß, nicht Ernsthaftigkeit. Alle Beschränkungen abschütteln, im Verlass darauf, dass sich andere beschränken. Man will leben, nicht denken. Sensationen sind attraktiv, und man will mitten drinnen sein; da verblasst die Idee distanzierter Nüchternheit. Institutionen wie die Familie gelten eher als Behinderungseinrichtungen, und man merkt zu spät, dass sie auch Stützen hätten sein können. Man will universitäre Aufrüstung für den Standortwettbewerb und pfeift auf die Bildung. Höflichkeit, eine klassische Form der Nichtbelästigung des anderen, wird bestenfalls noch als Gag verstanden.

Di Fabio ist zu optimistisch.Die Bürgerlichkeit hat wenig Chance. Bürgerlich sind nicht die Rolex und das Landgut, nicht die Vinothek und der Opernball, das diamantenbesetzte Handy und die Zigarre. Das alles ist unbürgerlich. Bürgerlichkeit war eine Wertewelt, und ihr Untergang zeigt sich schon daran, dass beinahe niemand mehr weiß, worum es sich dabei überhaupt handelt.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz.

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