Jetzt die Akzeptanz der Bürger gewinnen

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Seit Jänner arbeitet ein Konvent an der Erstellung der Europäischen Grundrechtscharta. Das Dokument ist kurz vor der Fertigstellung. Ein erster Schritt hin zu einem verbindlichen Grundrechtsschutz in der EU gesetzt.

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Seit Jänner arbeitet ein Konvent an der Erstellung der Europäischen Grundrechtscharta. Das Dokument ist kurz vor der Fertigstellung. Ein erster Schritt hin zu einem verbindlichen Grundrechtsschutz in der EU gesetzt.

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Den Grundrechtsskeptikern in der Europäischen Union wurde zunächst einmal der Wind aus den Segeln genommen. Ende Juli wurde der Öffentlichkeit ein Konzept einer Grundrechtscharta zugänglich gemacht, das in 52 Artikeln den Auftrag erfüllt, den der Europäische Rat auf seinen Gipfeltreffen in Köln und Tampere im Vorjahr erteilt hatte. Danach sollte ein Gremium, das sich aus Vertretern der Regierungen und der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten sowie des Europäischen Parlaments und der Kommission zusammensetzte, den Entwurf einer Grundrechtscharta vorbereiten, die vom Rat feierlich proklamiert werden soll. Dies solle am Europäischen Rat in Nizza geschehen, der im Dezember 2000 stattfinden wird.

Das Gremium, das sich selbst den Namen Konvent gab, hat in einer knappen Beratungszeit ein bemerkenswertes Ergebnis erzielt. Die nunmehr beginnende öffentliche Diskussion, zunächst in der Fachwelt der Juristen, beurteilt das Unternehmen positiv, obwohl es auch eine Reihe von kritischen Anmerkungen gibt.

In den kommenden Wochen wird sich der Konvent noch einmal mit dem gesamten Textwerk befassen und ziemlich sicher dem Wunsch der französischen Präsidentschaft nachkommen, bereits für den im Oktober in Biarritz stattfindenden Gipfel einen Entwurf vorzulegen. Soweit es zum gegenwärtigen Zeitpunkt beurteilt werden kann, wird der Entwurf von den meisten Mitgliedstaaten akzeptiert werden. Ein klares Nein dürfte lediglich von Großbritannien und Schweden zu erwarten sein, für Dänemark ergeben sich wegen des bevorstehenden Euro-Referendums besondere Empfindlichkeiten.

Übernorm am Anfang Der Konvent hatte für seine Arbeit vom Europäischen Rat Vorgaben erhalten, die von vornherein auf eine Bestandsaufnahme bestehender Grundrechtsquellen zielten. Diese sollen dem Bürger "sichtbar" gemacht werden. Konkrete Orientierungen ergaben sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Sozialcharta aus dem Jahre 1961 sowie aus der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus dem Jahre 1989. Neue Kompetenzen dürfen für die Europäische Union durch die Charta nicht entstehen.

Der nunmehr vorliegende Text berücksichtigt im Großen und Ganzen diese Vorgaben. Schon in der Präambel wird die Achtung der Rechte hervorgehoben, die sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, aus den Gemeinschaftsverträgen und den eben genannten Grundrechtskonventionen sowie der Rechtssprechung der Europäischen Gerichtshöfe in Luxemburg und Straßburg ergeben.

Im ersten Kapitel steht am Anfang der Satz: "Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen." Damit wird gleichsam das "Grundrecht der Grundrechte" gewährleistet, das als eine Art Übernorm für alle anderen Grundrechtsbereiche, im Besonderen auch für die sozialen Grundrechte, wirksam werden soll. Daneben ist in diesem Teil auch das Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit enthalten, sowie das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und schließlich das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit.

Kapitel zwei umfasst unter der Überschrift "Freiheiten" das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Achtung des Privat- und Familienlebens, den Datenschutz, das Recht eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, Gewissens- , Glaubens- und Religionsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Recht auf Bildung, Berufsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Eigentumsrechte und Asylrecht.

Diskussion fortsetzen Das dritte Kapitel trägt als Titel "Gleichheit" und regelt vor allem die Gleichstellung zwischen Mann und Frau, den Diskriminierungsschutz, den Schutz der Kinder sowie die Integration von behinderten Menschen. Die Aufnahme sozialer Grundrechte erfolgt unter der Überschrift "Solidarität". Unter dem Titel "Bürgerrechte" werden die bisherigen sich aus der Unionsbürgerschaft ergebenden Rechte zusammengefasst; darüber hinaus wird ein Recht auf gute Verwaltung normiert sowie das Recht auf Zugang zu den Dokumenten verankert. Die im Kapitel VI gewährleisteten "justitiellen Rechte" orientieren sich ziemlich genau an der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Im letzten Kapitel VII - allgemeine Bestimmungen - werden der Anwendungsbereich der Charta für Organe und Einrichtungen der Union, Einschränkungsmöglichkeiten sowie das Verbot des Missbrauchs verankert.

Wie bereits angedeutet, wird dieser Text mit großer Wahrscheinlichkeit die Zustimmung einer großen Mehrheit im Konvent erhalten. Realistischerweise kann man annehmen, dass der Europäische Rat in Nizza diese Grundrechtscharta dann als politische Proklamation feierlich beschließt. Damit bleibt die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit offen.

Wenn eine Grundrechtscharta das bewirken soll, was man in den Diskussionen mit ihr verbindet - nämlich Teil einer europäischen Verfassung zu sein, Ausdruck eines gemeinsamen Wertebewusstseins der Mitgliedstaaten der Union und Element einer neuen europäischen Identität - braucht sie die Akzeptanz durch den Bürger. Der Bürger wird sich damit nur identifizieren können, wenn er nicht nur eine politische Proklamation erhält, sondern ein rechtswirksames und durchsetzbares Grundrechtssystem. Dazu braucht es den verbindlichen Charakter der Charta. Um dieses Ziel zu erreichen wird die Grundrechtsdiskussion aber über Nizza hi-naus unter Einbeziehung der Bürger weitergeführt werden müssen.

Die bisherige Diskussion im Konvent hat dem Thema der europäischen Grundrechte eine neue Aufmerksamkeit verschafft und Sensibilität erzeugt. Sie kann jedoch nur der Beginn einer Debatte sein, die mit dem Ziel weitergeführt werden muss, dem Bürger Europas einen verbindlichen Grundrechtsschutz zu gewähren und die Grundrechtscharta zu einem integrierenden Bestandteil des Unionsvertrages zu machen.

Der Autor ist Vertreter der Österreichischen Regierung im Konvent zur Erstellung der Europäischen Grundrechtscharta.

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