Jung, männlich, sucht: Sicherheit

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Die Zahl der Kinderflüchtlinge in Österreich steigt, NGOs fürchten mangelhafte Betreuung. Ein Lokalaugenschein in einer steirischen Flüchtlingspension.

Seine Gesichtszüge sind noch kindlich, aber seine Körpersprache ist schon die eines erwachsenen Mannes. Die Arme verschränkt, das rechte Bein lässig über das linke geschlagen, lehnt Khalid an seinem Stockbett, 14 Jahre alt, keine 1,60 Meter groß, ein Fliegengewicht. Seit drei Monaten ist er in Österreich, erzählt er, ein ganzes Jahr hat die Flucht aus Afghanistan gedauert. Zu seiner Mutter und den beiden Schwestern, die noch dort sind, hat er kaum Kontakt. Und jetzt hat er einen negativen Asylbescheid bekommen: "Warum dürfen andere bleiben und ich nicht? Seit ich diese Nachricht bekommen habe, gibt es für mich keine Freude mehr. Niemand kann mir helfen.“

Immer mehr junge Flüchtlinge

Khalid ist ganz alleine nach Österreich gekommen. Kinder wie er heißen im Beamtendeutsch "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, kurz: UMF. Hinter diesem sperrigen Namen verbergen sich Geschichten von Kinderflüchtlingen, die entweder keine Familie mehr haben oder von den Eltern fortgeschickt werden, damit wenigstens ein Familienmitglied in Sicherheit ist. Geschichten, die immer öfter in Österreich Station machen. Zwischen Jänner und August haben 758 Kinder und Jugendliche in Österreich um Asyl angesucht, um fast ein Drittel mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt, wie Khalid, aus Afghanistan. Insgesamt 765 Kinderflüchtlinge sind derzeit in der Grundversorgung. Das heißt: Sie bekommen eine Krankenversicherung, Taschengeld, fünf Euro Essensgeld pro Tag und haben das Recht auf eine Unterkunft mit besserer sozialpädagogischen und psychologischen Betreuung. Rund 200 von ihnen sind derzeit in den vom Bund geführten Erstaufnahmezentren untergebracht, der Rest auf die Länder verteilt. Spitzenreiter bei der UMF-Betreuung ist die Steiermark mit 160 Kinderflüchtlingen.

Versteckt im LKW-Unterboden

Knapp ein Drittel, immerhin 44 Burschen, sind bei Günther Gruber in Gratwein, in der Grazer Peripherie, beherbergt. Zwischen schmucken Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten steht dort seine sonnengelbe "Pension Toscana“, die an der Fassade für "Turbo-Pizza“ wirbt. Gruber ist ein großer Mann, er trägt Schnurrbart und eine Funktionsjacke mit der Aufschrift: "Toscana UMF Quartier“. Der gelernte Maurer und Schalungszimmerer war Wirt, Diskothekenbetreiber und Koch, ehe er Anfang 2009 die frühere Gaststätte zu einem Quartier für Kinderflüchtlinge umfunktionierte. 18 Zimmer gibt es für die Burschen, jedes ist ausgestattet mit Stockbetten, Fernseher und Internetanschluss. Einer seiner Schützlinge kommt aus Bangladesch, einer aus Pakistan, alle anderen aus Afghanistan. Der Älteste wird bald 18, der Jüngste ist noch keine 14 Jahre alt. Die Namen von allen kennt Gruber nicht.

Einer von ihnen ist Khalid. Bevor er in die "Pension Toscana“ kam, war er, wie alle anderen Burschen, in Traiskirchen. Die letzte Etappe am Weg nach Österreich legte er im Unterboden eines LKWs zurück. Hamjad, 17, war zwei Jahre unterwegs, bevor er in Österreich ankam. Dann wurde er von seinem Schlepper in ein Taxi gesetzt und direkt ins Erstaufnahmezentrum geschickt. "Man kann als Asylwerber de facto nicht legal nach Österreich kommen,“ sagt Christoph Pinter vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). "Deshalb sind die meisten auf Gedeih und Verderb dem Schlepper ausgeliefert.“

Ein guter Teil der Jugendlichen hat - wenn nicht schon im Heimatland - auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht. NGOs befürchten jetzt, dass durch die steigenden Zahlen nicht alle die Betreuung bekommen, die ihnen zusteht. Auch privat betriebene Pensionen, wie die von Günther Gruber, stehen in ihrer Kritik. "Ohne über konkrete Einrichtungen urteilen zu wollen, kann man sagen: NGOs haben Erfahrung im Umgang mit asylsuchenden Kindern. Private müssen sich diese Expertise zukaufen. Und Pensionen werden eher gewinnorientiert arbeiten. Das wirft Fragen auf“, meint Christoph Pinter.

60 Euro pro Tag bekommt Gruber für jeden Jugendlichen vom Land Steiermark bezahlt. Die Kritik an ihm kann er nicht nachvollziehen. Vier Betreuerinnen beschäftige er momentan, sagt er, im November soll noch einer dazu kommen. Eine Deutschlehrerin, einen Nachtwächter und eine Putzfrau gibt es auch. "Alles gemäß der gesetzlichen Vorschrift. Wenn NGOs mich kritisieren, ist das Brotneid.“

Im "Haus Abraham“ vom Don Bosco Flüchtlingswerk in Wien, das denselben Tagessatz pro Kind bekommt, leben derzeit 16 Minderjährige. Beschäftigt sind sechs Betreuer, ein Praktikant und zwei Zivildiener. Fünf Jugendliche sind in psychologischer oder psychiatrischer Betreuung, von Grubers 44 Burschen derzeit keiner.

"Wir wohnen im selben Haus, meine Frau ist die Mama“, meint Gruber, der selbst Vater von zwei Teenagern ist. "Nicht selten sitz’ ich bis drei in der Früh mit einem Burschen zusammen und hör’ mir seine Probleme an. Wenn ich merk’, himmelschimmel, dem geht’s dreckig, dann muss ich schnell den Schutzschirm der Toscana-Familie aufspannen. Erst wenn das nicht funktioniert, brauchen sie einen Psychologen. Aber: Ich war zwanzig Jahre Gastwirt, ich bin ein guter Zuhörer.“

Keine Zusatzausbildungen

Seit Gruber in seiner Pension nur Minderjährige beherbergt, muss sich auch Brigitte Skerget mit Kinderflüchtlingen beschäftigen. Als Leiterin der Jugendwohlfahrt Graz Umgebung hat sie die Obsorge für die Burschen inne. Vorbereitet auf die neue Aufgabe war ihr Team nicht. Zusatzausbildungen für interkulturelle Kommunikation oder Schulungen in Asyl- und Fremdenrecht gab es keine. "Genau das wäre wichtig“, sagt Christoph Pinter, "sonst führt das zur Überforderung.“ Einmal im Monat schaut Skerget nach dem Rechten. "Die Unterkunft hat einen hohen Standard“, sagt sie.

"Gruber ist wie ein Vater für uns, wir alle leben hier wie Brüder“, meint auch Omid, 17, der seit einem knappen Jahr in der Pension wohnt. Manchmal hat er Besuch von ehemaligen Mitbewohnern, die nach ihrem 18. Geburtstag ausziehen mussten. Auch Omid stammt aus Afghanistan, auch er hat schon einen negativen Asylbescheid bekommen. Deshalb darf er jetzt keine Lehrstelle suchen, obwohl er das Polytechnikum abgeschlossen hat: "Ohne Papiere zu sein ist eine Katastrophe. Manchmal weine ich die ganze Nacht.“ Omid hat ein Einzelzimmer.

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