Jungtürkischer Ungeist bleibt ungebrochen

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Vor 100 Jahren begannen im damaligen Osmanischen Reich die staatlich legitimierten und angeordneten Gewalttaten gegen die armenische Minderheit. Bis zu eineinhalb Millionen Opfer forderte der Völkermord, der als erster des 20. Jahrhunderts gilt.

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Vor 100 Jahren begannen im damaligen Osmanischen Reich die staatlich legitimierten und angeordneten Gewalttaten gegen die armenische Minderheit. Bis zu eineinhalb Millionen Opfer forderte der Völkermord, der als erster des 20. Jahrhunderts gilt.

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Am 24. April jährt sich zum 100. Mal die unselige Nacht, in der mit Verhaftung und "Abtransport" der armenischen Elite von Konstantinopel der systematische Mord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern und Armenierinnen im spätosmanischen Reich begonnen hatte. Er gilt als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts. Seine politischen, sozialen und psychologischen Folgen sind bis heute gegenwärtig.

Die Tatsache der vorausgeplanten Massenmorde zwischen 1915 und 1918 ist unbestreitbar. Zwar fehlt es nicht an Relativierungsversuchen, wie dem des Österreichers Erich Feigl. In seinem "Ein Mythos des Terrors. Armenischer Extremismus: Seine Ursachen und Hintergründe" hat er 1986 versucht, den Armeniern zumindest eine Teilschuld an ihrer Verfolgung zuzuschieben und muslimische Türken als viel schwerwiegendere Opfer eines meist vorausgegangenen armenischen Terrors zu verklären. Feigl wie andere Genozid-Revisionisten gehen dabei von den stark divergierenden Opferangaben aus. Diese schwanken immerhin zwischen 300.000 und einer fünfmal so hohen Zahl. Jedenfalls haben die osmanischen Behörden 1919 selbst 800.000 Opfer eingestanden.

Für die auseinanderklaffenden Zahlenangaben sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Erstens war die osmanische Vernichtungsmaschinerie bürokratisch noch nicht so perfekt wie dann jene der Nationalsozialisten bei der Schoa, der Vernichtung der Juden. Zweitens wurden nicht alle, die auf den Deportationslisten für die Todesmärsche ins letztendliche Verhungern, Verschmachten und Verbrennen in der Wüstensteppe zwischen Euphrat und Tigris standen, wirklich bzw. bis zum Ende nach Deir ez-Zor abtransportiert. Eltern übergaben die Kinder Muslimfamilien, um so ihr Leben zu schützen, geraubte Frauen und Mädchen wurden in den Islam gezwungen, manch Armenier zog selbst den rettenden Glaubenswechsel den Schrecken der Deportation vor. Drittens waren zum armenischen "Religionsvolk" (ermeni milleti), das ausgerottet wurde, seit Konstantinopels Eroberersultan Mehmet II. Fetih im 15. Jahrhundert auch andere orientalische Christen wie Syrisch-Orthodoxe, Chaldäer und "Assyrer" gezählt. Allein ihr Blutzoll im "Armenier"-Genozid wird auf eine halbe Million Opfer geschätzt.

Es gab auch die "andere" Türkei

Zu den bis heute ungeklärten Themen gehört auch die Existenz und das Wirken einer "anderen" Türkei, die mit dem Wüten der herrschenden Jungtürken nicht einverstanden war, den Armeniern und anderen Christen beistand oder sich gar offen dem Morden widersetzte. Franz Werfel erwähnt in seinem Genozid-Epos "Die 40 Tage des Musa Dagh" fromme Muslime und bestimmte Derwisch-Orden, die Armenierinnen und Armenier verbargen, gesund pflegten und in Sicherheit brachten. Im Osmanischen Archiv von Istanbul, der "Hazine-i Evrak", sind gar nicht wenig Fälle von höheren und mittleren Beamten, Armee-und Polizeioffizieren belegt, die wegen Befehlsverweigerung im Genozid abgesetzt, degradiert, sogar füsiliert wurden! An der Spitze der Gegenkräfte stand kein Geringerer als der osmanische Kronprinz Yusuf Izzeddin Effendi. Er wagte es, sich gegen Enver Pascha zu stellen, einen der drei Hauptverantwortlichen für die jungtürkische Ausrottungspolitik. Prinz Yusuf ging dabei so weit, ihn 1915 an den Dardanellen vor versammelter Truppe zu ohrfeigen. Was folgte, war bald ein osmanisches "Mayerling": Der Thronfolger wurde am 1. Februar 1916 tot in seinem Bett gefunden, die Pulsadern aufgeschnitten. Das Hofkommunique sprach von Freitod, doch lag auf der Hand, dass Izzeddin Effendi der Rache Envers zum Opfer gefallen war. Abgesehen von der Armenierfrage stand der Kronprinz den Jungtürken auch wegen seiner Bemühungen um Beendigung des Ersten Weltkriegs im Weg.

Die Herrschaft der Jungtürken

Es stellt weiter eine Kernfrage dar, wie die politische Bewegung der Jungtürken, die im Namen von Brüderlichkeit zwischen allen Völkern und Religionen des Osmanischen Reiches gegen den despotischen Panislamismus von Sultan Abdül Hamit II.(1876-1908) revoltiert hatte, nach wenigen Jahren selbst eine derartige Schreckensherrschaft aufrichtete und bis zum bitteren Ende durchexerzierte. Hier kann aber ein Vergleich mit der Französischen Revolution helfen. Auch sie hatte mit "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" begonnen, um dann in einem Wald von Guillotinen zu ersticken

Wie in Frankreich waren die entscheidenden Jungtürken Freimaurer, wobei die Loge "Macedonia Risorta" in Saloniki eine entscheidende Rolle spielte. Ihr fünfköpfiges "Komitee für Einheit und Fortschritt"(Ittihad ve Terakki Cemiyeti), das die Türkei verjüngen wollte, bestand ausschließlich aus Freimaurern, als ihm der Sultan 1908 die Macht übergab. Seine tatsächlich demokratischen und völkerverbindenden Anfänge mündeten aber bald in einen geradezu rassistischen türkischen Nationalismus. Zum Kennzeichen des einzig daseinsberechtigten "wahren" Türken wurde neben Abstammung und Sprache auch seine islamische Religion gemacht.

Nun folgte bis 1918, was der französische Historiker Thierry Zarcone 2003 den "Maurerstaat" nannte. Der war alles andere als brüderlich. Nachdem ab 1913 jede Gewalt beim Triumvirat General Enver Bey, Talaat Pascha und Dschemal Pascha lag, machten sie sich an die Schaffung einer ethnisch reinen modernen Türkei.

Bis heute nicht eingestanden

Was 1914 als mörderischer Arbeitsdienst für Christen und Juden begann, wurde bald konsequent zum Genozid ausgeweitet. Die Fatwa (Gutachten) der damaligen höchsten islamischen Autorität, des Scheich ul-Islam -auch er Logenbruder -zur Rechtfertigung des Mordens war neben der Auflösung des armenischen Religionsvolkes 1917 ein weiterer unseliger Schritt der zum jungtürkischen Rassismus pervertierten spätosmanischen Freimaurerei.

Hundert Jahre danach stellt sich jetzt wirklich die aktuelle Frage, warum auch die moderne, republikanische Türkei diese Verbrechen weder eingesteht noch bereut. Die ernüchternde Antwort liegt darin, dass sie eben nie mit dem Ungeist der Jungtürken gebrochen hat. Kemal Atatürk, der rein äußerliche und somit nur vermeintliche Europäisierer, kam aus ihren Reihen. Er konnte als einziger einen der "Diktat-Frieden" von Paris, jenen von Sèvres, revidieren, was auch Hitlers Ziel beim Vertrag von Versailles bildete. Der Kemalismus war und ist jene Bewegung, die ihr Land und Volk noch immer prägt. Die ethnischen Säuberungen werden auch von Atatürks Epigonen fortgeführt. Mit subtileren Mitteln, aber auch offenen Pogromen: So an den thrakischen Juden 1934 und Istanbuls Griechen 1955.

Wenn sich die heutige "islamdemokratische" Führung um Präsident Recep Tayyip Erdogan wieder an der guten alten osmanischen Türkei orientiert, tut sie das an der ausgerechnet falschen Stelle: Ankara nimmt sich jetzt nicht die großen osmanischen Reformsultane aus dem mittleren 19. Jahrhundert, sondern eben jenen Abdül-Hamit II. zum Vorbild: Den Urheber des modernen politischen Islamismus und ersten Schlächters der Armenier: Seinem Wüten waren schon 20 Jahre vor dem eigentlichen Genozid an die 200.000 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer gefallen. Erstmals hat eine türkische Führung an diesem 10. Februar wieder amtlich seines Todestages gedacht

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