Kampf gegen das Vergessen

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Einzelne europäische Länder wollen nun mittels Gerichtsverfahren Druck auf Argentinien und Chile ausüben.

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Einzelne europäische Länder wollen nun mittels Gerichtsverfahren Druck auf Argentinien und Chile ausüben.

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Nach Frankreich sind nun auch Spanien, Italien und Deutschland nicht länger bereit, die Ermordung ihrer Staatsbürger zur Zeit der Diktaturen in Argentinien (1976 bis 1983) und in Chile (1973 bis 1989) ungesühnt zu lassen. Mit Hilfe von chilenischen und argentinischen Anwälten werden Gerichtsverfahren in verschiedenen Ländern Europas eröffnet. Österreich hat laut Auskunft des Außenministeriums nur einen einzigen verschollenen Staatsbürger zu beklagen, der nun definitiv für tot erklärt werden soll. Weiter nachgehen wird man diesem Fall jedoch nicht.

"Diese Hunde trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern, weil sie sich schämen." Elba Hofer ist eine gläubige Frau und schlägt, Gott für ihre Flüche um Verzeihung bittend, ein Kreuz. "Wenn ich an diese Generäle denke, kann ich mich nicht zurückhalten." Die Frau schweizerischer Abstammung trauert um ihre Neffen Oscar Omar und Victor Hugo Hofer. Ihre Schwägerin, die (posthume) Stiefmutter der beiden Verschwundenen, die Deutsche Luisa Degraf, stimmt in die Beschimpfungen ein: "Wir hoffen immer noch, daß die Verantwortlichen ihre gerechte Strafe bekommen." Die Rede ist von den Generälen, die Argentinien zwischen 1976 und 1983 regierten. In dieser Zeit verschwanden 30.000 Menschen. Und im Gegensatz zu den anderen lateinamerikanischen Staaten existieren in Argentinien kaum Massengräber: Die Verschleppten wurden nach ihrer Ermordung meist ins Meer geworfen.

Staatsterrorismus Es geschah am 28. und 29. April 1976. Der 26jährige Oscar Omar Hofer, Fabrikarbeiter und Vater zweier Mädchen, wurde bei seiner Schwägerin verhaftet. Seine Frau ließen die Militärs los, weil sie zu laut schrie. Noch wäre Zeit gewesen für seinen Bruder, den Schweizer Staatsbürger Viktor Hugo Hofer, zu fliehen. "Victor Hugo wollte nicht feige abhauen", erinnert sich Luisa Degraf an die Erzählungen ihres verstorbenen Mannes, des Vaters der Hofer-Brüder. Victor Hugo, Absolvent einer technischen Hochschule, hätte gewarnt sein sollen. Er war kurz zuvor in der "noche de los lapices" (Nacht der Stifte) dabeigewesen, in deren Verlauf die Armee einige Studenten massakrierte, konnte aber fliehen. "Am 29. April, morgens um fünf Uhr, drang eine Horde Soldaten ins Haus, schloß die beiden Eltern ins Badezimmer und nahm Victor Hugo mitsamt allem Geld, Schmuckstücken und Erbgut mit", erzählt Luisa Degraf. "Ich kann nur lachen über die Leute, die heute sagen, in der Zeit der Diktatur habe wenigstens Ruhe und Sicherheit geherrscht. Tausende Soldaten und Polizisten haben genommen, was ihnen in die Finger fiel. Das war eine staatlich sanktionierte Klauerei." Victor Hugo und sein Bruder Oscar Omar wurden am nächsten Tag zum letzten Mal gesehen. An der Suche nach den Brüdern ist zuerst die Mutter und dann der Vater zerbrochen. Beide leben heute nicht mehr. Über die Brüder Hofer wurde in einem landesweit ausgestrahlten Film berichtet.

Einige europäische Staaten sind nun aktiv geworden. Frankreich, das 15 Staatsbürger im schmutzigen Krieg in Argentinien verloren hat, hat bereits einen Verantwortlichen verurteilt. Alfredo Astiz war Offizier in der berüchtigten Marineschule "Escuela de Mecanica de la Armada". Dort wurden 4.500 Leute gefoltert und die meisten umgebracht. Gleichzeitig infiltrierte sich Astiz in der Gruppe der Mütter vom "Plaza de Mayo", indem er vorgab, einen verschleppten Bruder zu haben. Er nahm an den Versammlungen teil und gewann das Vertrauen der Gruppe. Am 8. und 10. Dezember 1976 starteten die Militärs massive Aktionen gegen Familien in der Kirche Santa Cruz und an anderen Orten. 13 Leute verschwanden, darunter die französischen Nonnen Alice Doman und Leonie Dugat. Der Handlanger und Verräter Alfredo Astiz wurde zur Symbolfigur für den argentinischen Staatsterrorismus, für den es keine Legitimation gab, denn ein Feind im Innern existierte nicht. Der Anwalt Horacio Mendez Carreras untersuchte in Argentinien für die französischen Richter. Mit Erfolg: Astiz wurde in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. "Jedes Verbrechen, das einem französischen Staatsbürger irgendwo auf der Welt angetan wird, kann vor französischen Gerichten verhandelt und verurteilt werden", erklärt Carreras.

Druck auf Politiker Eine andere Grundlage besitzt Spanien. Es stützt sich für einen Prozeß wegen der Ermordung von mindestens 350 Spaniern auf internationales Recht. Richter Baltasar Garzon führt in Madrid die Untersuchungen, die in die Eröffnung von Gerichtsverfahren münden werden. Parallel dazu wird von Richter Manuel Garcia-Castellon gegen chilenische Militärs ermittelt. Spätestens zum Zeitpunkt, da eine Prozeßeröffnung aufgrund der Beweislast möglich sein wird, können die Angeklagten wegen des internationalen Haftbefehls Chile oder Argentinien nicht mehr verlassen. Spanien wird die Verantwortlichen in Abwesenheit bei Anwendung des internationalen Rechtes nicht verurteilen können. Aber die Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird die Bewegungsfreiheit verschiedener Akteure behindern.

Nun beginnt auch Italien mit der Untersuchung wegen 300 verschollener Staatsbürger. In Deutschland wird Carreras' Anwaltskollegin Stella Maris Ageitos im April vor der Staatsanwaltschaft Bericht erstatten. Die Anwältin hat ein persönliches Interesse daran, daß Deutschland wegen seiner 70 verschollenen Staatsbürger Anklage erhebt: ihr Mann wurde 1976 verschleppt. Bis heute ist nichts über seinen Tod bekannt. Nun hat sich in Deutschland eine breit abgestützte "Koalition gegen Straflosigkeit - Wahrheit und Gerechtigkeit für die deutschen Verschwundenen in Argentinien" gebildet. Über ein Dutzend Gruppen sind daran beteiligt; das Max-Planck-Institut für internationales Strafrecht in Freiburg prüft die Möglichkeit einer Klage gegen die Verantwortlichen. "Mit den Prozessen in Europa schaffen wir Druck auf die Regierungen in Argentinien und Chile. Vielleicht überdenken sie die Praxis, Mörder weder auszuliefern noch selbst zu verhaften."

Gegen das Vergessen Emilio Mignone, Autor des Buches "Les ,disparus' d'Argentine", in dem er die komplizenhafte Rolle der katholischen Kirche in der Diktatur aufdeckt, hofft mit Verurteilungen im Ausland den Bürgersinn in Argentinien wecken zu können. Sein Institut "Centro Estudios Legales Sociales" (Cels) kämpft gegen das Vergessen. Per Gesetz wurden die Handlanger der Militärs, jene, die die Befehle ausführten, reingewaschen. Und mit dem Gesetz "Punta final" wurden schließlich auch die Befehlshaber selbst amnestiert. "Damit kann sich eine zivile Gesellschaft nicht abfinden", erklärt Emilio Mignone. Seine Tochter wurde am 14. Mai 1976, morgens um fünf Uhr, von 15 Soldaten abgeholt - angeblich für drei Stunden zum Verhör. Die Eltern konnten ihr gerade noch das Taxigeld für die Rückkehr zustecken. Es war das letzte, was sie für ihre einzige Tochter tun konnten, die sich für Kinder in den Slums engagiert hatte ... Nun tut sich auch in Argentinien eine Möglichkeit auf, die Amnestie aufzubrechen. Ein Richter schützte vergangenen September die Ansicht, daß das Verbrechen der Entführungen andauere, solange keine toten Körper gefunden werden. Damit würde jede Amnestie ihre Gültigkeit verlieren. Ob der Oberste Gerichtshof diese Ansicht unterstützt, ist freilich fraglich: Präsident Carlos Menem hat das höchste Gericht von sieben auf neun Mitglieder aufgestockt. Fünf Richter sind seine Gefolgsleute. Damit ist das Gremium eine politische Instanz, die dem Präsidenten kaum in den Rücken fallen wird ...

"Linke Subversion" Breite Kreise der Öffentlichkeit in Chile und Argentinien wollen von der belasteten Vergangenheit nichts mehr wissen. Sie verdächtigen die Menschenrechtsgruppen der linken Subversion. Damit hält sich auch die Kultur der institutionellen Gewalt gegen die Bürger. "Unsere Polizei ist durch und durch rassistisch", sagt Anwalt Horacio Mendez Carreras. "Junge Menschen mit dunkler Hautfarbe und langen Haaren oder Juden werden häufig schikaniert. Es kommt vor, daß Leute auf der Polizeiwache totgeprügelt werden. Die Polizisten sind schlecht ausgebildet, korrupt und mit der Mafia direkt verstrickt. Wenn ein Geschäftsmann keinen privaten Sicherheitsdienst engagiert, wird bei ihm eingebrochen. Auch wenn er Tür an Tür mit der Polizeiwache sitzt." Auch die Armee hat Reformen versäumt. Deshalb haben die Militärs in Argentinien massive Rekrutierungsschwierigkeiten.

Doch das ramponierte Image der Mächtigen tröstet Elba Hofer und Luisa Degraf wenig. Sie haben ohnedies jegliches Vertrauen in die Polizei verloren, seit die Frau von Oscar Omar Hofer einige Monate nach dem Verschwinden ihres Mannes einen Polizisten in dessen Kleidern sah. "Der Familie Hofer wurden die Söhne geraubt. Diesen Namen wird es in Baradero bald nicht mehr geben. Hoffentlich werden die Schuldigen in der Hölle braten", ruft Elba Hofer und schlägt ein Kreuz.

Der Autor ist freier Schweizer Journalist.

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