6722426-1965_18_01.jpg
Digital In Arbeit

Kirche und 1. Mai

Werbung
Werbung
Werbung

„Die Kirche ist die Kirche aller, aber heute mehr denn je die der Armen.“

Johannes XXIII.

Die Kirche kennt keinen Klassenbezug, und aus ihrer Natur heraus auch kein soziales Engagement an sich, sondern, soweit sie in ihrer Lehre mit sozialen Argumenten arbeitet, nur Arme und Reiche, Menschen in Versorgungsnot und Menschen, die in „Überfluß“ leben, von dem zu geben sie moralisch verpflichtet sind. Wenn die Kirche scheinbar jemals für die sogenannten „Reichen“ gewesen ist, so deswegen, weil sie daran interessiert war, Personen zu fördern, die es zu einem Überfluß brachten, aus dem sie abzugeben vermochten. Heute würden wir einfacher sagen: Die Kirche war aus sozialen Gründen für eine Produktivitätsförderung, für die Vermehrung des Sozialprodukts — aber gleichzeitig für einen von karitativen Erwägungen bestimmten Lastenausgleich.

Die Armen etwa des Mittelalters wurden von der Gesellschaft als Anzeiger eines Naturereignisses betrachtet, das daher irreparabel war. Auch die Kirche war dieser Meinung, und sie war dies auch angesichts weitverbreiteter Armut, gab es doch beispielsweise im Frankreich Ludwigs XIV. unter 17 Millionen Einwohnern nicht weniger als zwei Millionen Bettler; ungerechnet die nichtbettelnden Armen.

Der Lastenausgleich, von dem die Kirche seit ihren Ursprüngen ausgegangen ist, war nicht von der Zielvorstellung einer Gerechtigkeit bestimmt, sondern lediglich von der Liebe, in die Arme und auch Reiche eingeschlossen wurden. Die Caritas etwa der Urkirche und des Mittelalters war aus diesem Grund nicht auf Sozialreform bedacht, sondern einfach auf Ausgleich der Versorgungschancen, das heißt auf Beseitigung der Not, auf Sicherung von materiellem Mindesteinkommen — ähnlich wie in der Gegenwart das System der Sozialhilfe (Fürsorge).

Auch die Akte der Gerechtigkeit können aus den Impulsen der Liebe bestimmt sein; diese führt aber zu qualitativen und nicht allein zu quantitativen Änderungen, während sich die Gerechtigkeit in erster Linie in materiellen Umverteilungen darstellt, in buchhalterischer Verrechnung, in der Gleichsetzurig von Leistung und von Gegenleistung.

Die Soziallehre der Kirche, formuliert angesichts der Probleme der modernen sozialen Frage, ist daher eine geschichtliche Erscheinung. Selbstverständlich kann man kirchliche Lehrmeinungen von der Gegenwart her und mit deren Denkansätzen als sozial interpretieren. Trotzdem darf man aber annehmen, daß die Kirche auch heute nur arm und reich, und dies in einer Einheit der Gegensätze, kennt.

Daher ist die Kirche scheinbar in der Interpretation sozialer Fragen unverläßlich und nicht „klassentreu“. Auch nicht gegenüber den Arbeitern. Die Kirche wird stets für die Armen sein, ob sie nun Arbeiter sind, Bauern oder Gewerbetreibende.

Man kann aber annehmen: Eine dem Idealzustand zustrebende Sozialreform beseitigt die Restarmut und läßt der Kirche keine Chance, eine ihrem Wesen entsprechende Betreuung der Armen zu vollziehen. Gleichsam aus ihrer Definition heraus kennt die Wohlfahrtsgesellschaft nicht mehr das Phänomen der Armut. Dagegen kann man aber sagen, daß es trotz sozialer Sicherheit, trotz der Absenz von Hunger stets Arme unter uns geben wird. Also auch nach dem totalen Vollzug der Sozialreform.

Ganz abgesehen davon, daß Armut ein relativer Zustand ist und jede geschichtliche Situation ihre arteigene Armut hat, gibt es, wenn wir die Beseitigung jeder Einkommensarmut voraussetzen wollen:

• die auf Grund von Umweltbedingungen oder aus ihrer Natur heraus Kontaktarmen, die Alten und die Flüchtlinge, auch wenn sie materiell abgesichert sind; Rentenhilfe kann nicht alle Not liquidieren;

• die sozial Disqualifizierten, die mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt gekommen und der sozialen Lynchjustiz ausgeliefert sind.

• Kinderreiche der unteren Einkommenstufen.

Unter Bedachtnahme auf die Natur der Gesellschaft müssen wir daher annehmen, daß es in unserer sich so perfekt präsentierenden Gesellschaft keinen „Mangel“ an Armut gibt und in Hinkunft auch nicht geben wird. Daher bleibt die permanente Dienstverpflichtung der Kirche gegenüber einer gesellschaftlichen Großgruppe, die sich von anderen dadurch unterscheidet, daß sie Merkmale zeitbedingter Armut aufweist, daß sie Versorgungsmängel anzeigt — und sei es nur einen Mangel an menschlicher Wärme, an gütigem Zuspruch, an humanen Gesten, an Freundesworten.

Das heroische und nicht immer bedankte Engagement der Kirche für die Arbeiter des 19. Jahrhunderts und auch heute noch in vielen Regionen der Welt war und ist daher nicht ein Engagement für die Arbeiter an sich, für eine Großgruppe, die bestimmte Merkmale in der Arbeitsgesellschaft aufweist, sondern für die Arbeiter, soweit sie ökonomisch und sozial unversorgt sind.

Der Einsatz der Kirche für die arbeitenden Armen des 19. Jahrhunderts war permanent. Der Abfall der Arbeiterschaft von der Kirche war keine Antwort des Industrieproletariats auf eine soziale Fehl-haltung der Kirche, sondern von außen her manipuliert, in Frankreich etwa von einem Prinzen Jeröme Napoleon, dem Vetter des Kaisers, und organisiert vom linken Flügel der Bourgeoisie, für die Not nur eine Denkkategorie war, nicht mehr. Im 19. Jahrhundert war jedenfalls die Not ein willkommenes Instrument, um die Idee des Laizismus vermittels der Arbeiterschaft mit massenweiser Wirksamkeit durchzusetzen.

Wenn heute wieder von der Kirche der Armen gesprochen wird und gleichzeitig andere die „Finanzen des Vatikans“ glossieren, so soll das heißen, daß die Kirche sich neuerlich und angesichts der Bedingungen unserer Zeit mit dem Problem der Armut und ihren gegenwärtigen Erscheinungsformen konfrontiert sieht und man ihr eine neue Form der Selbstdarstellung abverlangt.

Sicherlich kann die Kirche der Gegenwart mehr denn je Einkommenshilfe gewähren, vor allem den Menschen in den sozial unterentwik-kelten Regionen.

Die Kirche ist heute aber vor allem aufgerufen, sich im Rahmen einer elementaren Kirchenreform im Geist der Armut und der Liebe zu erneuern. Das bedeutet m. E. ein Doppeltes:

• Die Kirche soll in ihrem Verhalten eine Einfachheit demonstrieren, die dem Stil der Urkirche angemessen ist. Das soll nicht als eine Rückführung etwa der Priester auf subproletarische Lebensbedingungen oder eine materielle Verkümmerung der Instrumente der Seelsorge verstanden werden, sondern als Vermeiden einer oft profanen und provo-kativ-triumphierenden Glanz- und Machtdarstellung, die mit der Pastoralen Aufgabe der Kirche und mit den Buchstaben und dem Geist des Evangeliums nichts zu tun hat. Der barocke Prunk der 'Kirche mag zu seiner Zeit im Interesse pastoraler Anziehung geboten gewesen sein; heute ist er nur noch ein Denkmal. Der Vorrang der geistlichen Güter vor den materiellen muß eindeutig, allen offenkundig, gesichert sein. Daher die Forderung des Papstes nach Distanzierung vom Materiellen — auch in der Kirche — und nach einer neuen, zeitgemäßen Theologie der Armut.

• Die wesentliche Dienstleistung der Kirche von heute ist ein Dargebot an Liebe, einer Liebe, die nicht meßbar und auf dem Gerichtsweg einklagbar ist, aber der Ausdruck des Wesens der Kirche zu sein vermag. Der Adressat des Liebesdargebotes der Kirche ist der Mensch an sich, in welcher Situation immer er sein Dasein besteht, aber im besonderen die Großgruppe der Armen, der eine wägbare und unwägbare Hilfe unter Ausschöpfung letzter wirtschaftlicher und humaner Leistungsreserven der Kirche geboten werden muß.

So kann man den fast wieder zur Formel erstarrten Begriff einer „Kirche der Armen“ als eine großartige Herausforderung an uns verstehen, das Christliche am Christlichen angesichts neuer und nicht in Reglementierungen faßbarer und behebbarer Nöte aufzuzeigen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung