"Kloake, in der Millionen Sowjets den Tod fanden"

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Tabuthema Stalin: Auch 50 Jahre nach Stalins Tod (5. März 1953) findet es Russland nicht nötig, den Stalinismus aufzuarbeiten. Ein Fünftel der Sowjetbürger ist dem Diktator zum Opfer gefallen. Moskau verweigert ihnen sogar die Ehre der Erinnerung.

Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der unter Kommunisten durchaus unerträglich ist, wird vollkommen untragbar im Büro des Generalsekretärs." Ihn müsse jemand ersetzen, der sich von ihm "in jeder Weise durch Überlegenheit unterscheidet". Dieses Testament Lenins wagten die Erben nicht zu vollstrecken, sondern hielten es geheim. Gezänk in den Führungsgremien der Kommunistischen Partei hatte den kränkelnden Lenin derart genervt, dass er 1922 den zähen Parteiarbeiter Stalin zum Generalsekretär der Partei machte, damit er ihm die Tagesgeschäfte abnehme. Die intellektuellen Primadonnen der Partei verschmähten dieses unspektakuläre Amt; ein folgenschwerer taktischer Schnitzer.

Als Generalsekretär gewann Stalin die Kontrolle über die Partei und bei Lenins Tod 1924 verfügte just jener Mann über die stärkste Hausmacht, den Trotzki - brillanter Stratege der Oktoberrevolution - vordem öffentlich als "hervorstechendste Mittelmäßigkeit" in der Partei verhöhnt hatte. Diese Hausmacht befähigte Stalin zu überraschenden Kurswechseln, die "Parteifeinde" aus der Bahn schleuderten, und zu einem Terrorsystem, das Trotzki treffend so definiert hatte: "Gewalt ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten."

Terror von oben: GULag

Der erste Fünfjahresplan (1928-1933) sollte mit gigantischer Industrialisierung den "Sozialismus in einem Land" herbeizwingen. Für die folgenden Produktionsschlachten standen die Divisionen schon bereit: rund 600.000 "Klassenfeinde" in den ab 1918 errichteten Konzentrationslagern, später als "Archipel GULag" Inbegriff für strukturellen Terror von oben: Sieben-Tage-Arbeitswoche, täglich elf Arbeitsstunden, Ernährung mit 1.400 Kalorien nur nach Erfüllung horrender Planvorgaben und Todesstrafe für "Sabotage" wie Bummeln oder Tachinieren. 1929 schmachteten im GULag 1,2 Millionen Sklaven, bis 1933 stieg ihre Zahl mit rund 200 Lagern auf zwei und bis 1939 auf annähernd acht Millionen.

Verwaltet vom NKWD, der sowjetischen Mischung aus Gestapo und SS, baute dieses Sklaven-Heer Bahnen, Kanäle und Fabriken. Hunderttausende schufteten im Bergbau oder rangen Sibirien Neuland ab. Mit dem GULag organisierte Stalin ab 1926 den Verleih von Arbeitssklaven an Staatsfirmen. Dieses Sklaven-Leasing machte den GULag sehr schnell zum wichtigsten Bauunternehmen der Sowjetunion - und senkte die Arbeitskosten theoretisch auf ein Drittel. Den lukrierten Mehrwert, nach Marx der Profit aus kapitalistischer Ausbeutung, strich der Staat ein.

"Kapitalisten aus dem Dorf"

Die Sterberaten unter den ausgemergelten Sträflingen schwankten zwischen zehn und 18 Prozent. Deshalb erhöhte Stalin die Essensrationen je nach Arbeitsleistung und Erfüllung der Normen. Und er gewährte seinen Sklaven pro Monat drei Ruhetage - damit "die körperlichen Kräfte rationell und möglichst effektiv ausgenutzt" würden. Diese "Effektivität" kostete bis 1938 mindestens vier Millionen Häftlingen das Leben. Nachschub für den GULag holte sich Stalin in einem beispiellosen Krieg gegen das eigenen Volk: in der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1928.

Erfolgreiche Landwirte stilisierte Stalin zu Kulaken, die allerdings Lenin schon zehn Jahre vorher liquidiert hatte. Jetzt dozierte Stalin, dass die "Kapitalisten aus dem Dorf" zu stark geworden seien, also müsse man die Kulaken als Klassenfeinde verhaften, erschießen oder zur Zwangsarbeit deportieren. Zur Größenordnung: Der "reiche Kulak" hatte im statistischen Durchschnitt drei Kühe, zehn Hektar Ackerland und eine siebenköpfige Familie. Der "Klassenkampf auf dem Land" begann: Die Bauern mussten allen Besitz den Kolchosen abtreten und 40 Prozent der Ernte zu einem Zehntel der Gestehungskosten abliefern. Wer sich nicht beugte, wurde enteignet; an die 600.000 Kulakenfamilien verschwanden im GULag. Die verzweifelten Bauern bestellten ihre Äcker nicht mehr, schlachteten ein Fünftel ihrer Rinder und ein Drittel der Schweine. Stalin konterte mit Einschränkung des Salzverkaufs, damit niemand Fleisch einpökeln konnte.

Nach amtlichen Statistiken hat sich die UdSSR von diesem Wahnsinn 25 Jahre lang nicht erholt: Zwischen1928 und 1933 sank der Viehbestand von 70,5 auf 38,4 Millionen und erholte sich bis zu Stalins Tod 1953 auf nur 58 Millionen. Vor dem Klassenkampf auf dem Land flüchteten Hunderttausende Bauern in die übervölkerten Städte. Daraufhin zernierte Stalin nach Lenins Vorbild von 1920/21 die rebellierenden Regionen, verbot dort den Verkauf von Bahnkarten, stoppte jeglichen Handel dorthin und überzog das Land mit einem Netz von Straßensperren. Alsbald brach nach dem Verbrauch des Saatguts zunächst der große Hunger, dann der Typhus und schließlich das Massensterben aus (siehe Interview unten). Aus der Krise, die durch das katastrophale wirtschaftliche Fehlschlagen des ersten Fünfjahresplans entstand, half sich Stalin mit der "Großen Säuberung" all jener, die Stalin irgendwann in die Quere gekommen waren. Stalin vermittelte nun der Öffentlichkeit das groteske Bild, dass es in seinem totalitären Polizeistaat von Terroristen, Saboteuren, Verrätern, Klassenfeinden, Agenten der Gestapo, Wirtschaftsverbrechern, Abweichlern und Trotzkisten nur so wimmle. Den "Beweis" dafür lieferten Stalins Opfer in Schauprozessen mit widerwärtigen Geständnissen. Der NKWD präparierte die Angeklagten, bis sie psychisch gebrochen waren und pannenfrei beschrieben, wie sie Morde an Parteiführern geplant, im Auftrag der Briten die Abspaltung von Teilrepubliken eingeleitet oder für die Gestapo gearbeitet hätten. Bis 1938 liquidierte Stalin alle Mitarbeiter Lenins, drei Viertel der Mitglieder des Zentralkomitees und der Militärführung, zwei Drittel der Armeekommandanten und 90 Prozent der Divisionskommandeure - insgesamt mindestens 680.000 Menschen.

Gemeinsame Gaunerei

Zur Ablenkung des Auslandes von der Säuberung inszenierte Stalin seit der Machtergreifung seines Todfeindes Hitler 1933 ein atemberaubendes Kontrastprogramm. 1934 trat er dem Völkerbund bei, den Hitler im Jahr zuvor verlassen hatte. 1935 schwang er sich in einer abrupten Kehrtwendung zur Galionsfigur des Antifaschismus auf. 1939 überrumpelte Stalin seine Volksfront-Partner mit einer beispiellosen Niedertracht. Er schloss mit Hitler einen Nichtangriffspakt, dessen streng geheimes Zusatzprotokoll den gemeinsamen Angriffskrieg gegen Polen vorsah. Damit leistete Stalin entscheidende Geburtshilfe zum Zweiten Weltkrieg. Das Wesen dieses Bündnisses entsprach einer These Hitlers aus 1923: "Zweierlei Dinge vermögen die Menschen zu vereinigen: Gemeinsame Ideale, gemeinsame Gaunerei."

Weder über diese Gaunerei noch über die anderen Megaverbrechen verlor der "Entstalinisierer" Chruschtschow eine Silbe. Er verharmloste den Stalinismus zum "Personenkult" und ersparte damit der KPdSU die Gewissenserforschung - obschon sie Stalins Terrorherrschaft ermöglicht und annähernd ein Fünftel der Sowjetbürger das Leben gekostet hat. Nach der dogmatischen Logik der Partei waren sie allesamt Klassenfeinde. Und deshalb verfielen sie dem Vergessen - bis heute.

Der Autor ist freier Publizist.

Bis heute fragt sich Nadeschda Krabec, wie sie so naiv an Stalins Güte glauben konnte. Von den Möglichkeiten, sechs Jahre GULag zu verarbeiten, hat

sie die Konfrontation gewählt. Der Untersuchungsrichter war leider zu feig dafür. Die sklavische Mentalität der

Russen ist 50 Jahre nach Stalin noch zu tief verwurzelt.

Eduard Steiner

Sie rauchen nicht?" fragt Nadeschda Krabec, "schade, Rauchen ist so verbindend." In die Küche auf einige Zigarettenlängen, so will es die Tradition und das auf schlechten Erfahrungen gründende Bedürfnis, die Vertrauenswürdigkeit eines Gesprächspartners abzutasten. Ins Wohnzimmer kann man früh genug wechseln, wenn man sich entschlossen hat, doch ganz offen zu erzählen. "Ich habe mir das Rauchen bei den Verhören und danach im Lager angewöhnt. Es dämpft auch den Hunger." Heute kommt er erst gar nicht richtig auf. Die zierliche Gestalt der Raucherin ist beredter Beweis des Appetitmangels, die Schönheit des Gesichts vertuscht das Alter und den Zigarettenkonsum.

Das Orchester lag der Violinistin mehr als die Solistenkarriere. In ihrem Elternhaus hatte man Bildung hoch gehalten, dazu gehörte klassische Musik, die Nadeschda schließlich zu ihrem Beruf machte.

Sie war auf dem Weg zur Orchesterprobe. "Was haben Sie voriges Monat in Gorki getan", stellten sich plötzlich mitten an jenem helllichten Tag des Jahres 1949 zwei Männer auf dem Gehsteig links und rechts von ihr auf. "Ich war nicht in Gorki", entgegnete die damals 26-Jährige verwundert. "Das müssen wir feststellen. Steigen Sie ins Auto!"

"Gastspiel" in Sibirien

Den Verwandten versuchte man forthin weiszumachen, Nadeschda sei auf Gastspiel mit dem Orchester, tatsächlich war sie im Hauptgebäude des KGB, der Lubjanka, der "Schleuse zu jener Kloake, in der Millionen von Sowjetbürgern den Tod fanden", zitiert sie Solschenizyn. Neun Monate lang Verhöre, stundenlang - oft erst ab zehn Uhr in der Nacht, und dann in der Früh wieder auf und den ganzen Tag sitzen oder stehen. Und immer die Angst, etwas Falsches zu sagen. Und wie bei der Mehrzahl der Mitgefangenen die Überzeugung, dass sich jemand geirrt habe, Stalin falsch informiert worden sei. "Wir hofften auf Stalin, wir glaubten abgöttisch an ihn. So dumm waren wir, so dumm", schüttelt sie den Kopf.

Stalin half nicht, als Nadja, wie sie alle nannten, wegen antisowjetischer Agitation, diesem schicksalhaften Universalparagrafen der damaligen Zeit, schließlich zu sechs Jahren Schwerstarbeit ins Lager transportiert wurde. Als zierliche Frau mit zarten Musikerhänden in Sibirien: Sklavenarbeit, Hunger, frostige Kälte, Erschöpfung, Seuchen und die Erniedrigung, als Kriminelle behandelt zu werden. Nadja überlebte. "Ich fand an der Arbeit irgendeine Genugtuung, das war die Rettung." Selbst dann, als sie wegen Stalins Tod am 5. März 1953 jegliche Hoffnung auf irgendjemandes Hilfe verloren hatte.

Gütiger Stalin?

Nadjas Elternhaus war von Geist, Intellekt, Kultur geprägt, jede Ecke in der bescheidenen Wohnung ist noch heute mit Büchern ausgestattet. Der Großteil von ihnen auf Deutsch. Lesen ist ihre Leidenschaft, auf weite Strecken auch ihr Leben. Jede Unterhaltung zum Teil ein Streifzug durch die Literaturgeschichte, in akzentfreiem Deutsch, erlernt von einem deutschen Kindermädchen. Über Politik wurde zu Hause nicht geredet, dafür gab es Gespräche über Musik. Selbst wenn das Gespräch einmal auf Politik kam, war es von der staatlichen Propaganda abhängig: "Alles in Ordnung", hieß es da. "Stalin war in unerreichbarer Höhe. Unser Schicksal hat sich nicht gekreuzt". Nadja versteht, dass Millionen wie sie selbst in Stalin den Größten sahen, den Besten und Gütigsten. Die ernüchternde Erkenntnis über Stalins Verbrechen stellte sich erst viel später ein.

Im Herbst 1955 kam sie aus dem Lager zurück. "Was war, das war", hat die Mutter das Thema unterdrückt, als Nadja über die Hölle reden wollte. Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, jeder hatte selbst genug durchgemacht. Die Musik wird geholfen haben, um mit dem erlebten Schrecken leben zu lernen. Die heute 80-Jährige fand allmählich den Weg zurück ins Orchester. Ein anderer Weg war ihr genauso wichtig. Sie wollte Wahrheit und sie wollte, dass die Beteiligten ihr in die Augen sehen.

Sie wusste, wer gegen sie ausgesagt hat: ein Komponist, der - gemäß Stalins Erlass gegen die Musik der russischen Moderne - Paradenmusik für das Volk komponierte. Nadja hat ihm einmal vorgehalten, für diese Art von Musik hätte er nicht studieren brauchen. "Du hast Karriere gemacht", dachte Nadja, als sie aus dem Lager zurückgekommen war und seinen Namen auf einem Schild las. Sie hat ihm verziehen, zumal im Wissen, dass der wirkliche Denunziant jemand anderer gewesen sein musste. Wer, das wird sie nie erfahren. Als man Anfang der neunziger Jahre in die Akten Einblick nehmen konnte, fehlten entscheidende Seiten in ihrem Dossier.

Eines Tages hat Nadja auch ihren Untersuchungsrichter angerufen und sich unter anderem bedankt, dass er ihr während der Verhöre Brötchen angeboten hat: "Das hätte er nicht tun müssen", rechnet sie ihm die gute Geste an. Dem Mann war der Anruf unangenehm, zumal Nadja ein Treffen vorschlug. "Menschen sind komisch", wurmte sie die Feigheit, seinen eigenen Taten und dem Opfer nicht ins Auge zu sehen. Als sie ihn etwas später wieder kontaktieren wollte, erfuhr sie von seinem Tod. Und empfand Mitleid.

Bergab mit der Hoffnung

"Ich vertraue darauf, dass Sie diskret mit meinen Aussagen umgehen", ist die Vorsicht im Leben geblieben. Die in geheimdienstlichen Verhören sensibilisierten Augen können der Gegenwart keinen besonderen Optimismus abringen. Ein liberales Denken vermisst sie in Russland, den Geist, der in ihrer Familie geatmet hat. Stattdessen gibt es wieder öfter Stimmen, die die Statue des KGB-Gründers wieder aufgestellt und Wolgograd in Stalingrad umbenannt haben möchten. "Heute geht es wieder bergab mit den Hoffnungen, ich habe keine, es ist traurig", stellt sie im verqualmten Wohnzimmer resignierend fest, nachdem sie ein Gedicht von Heine memoriert hatte. Die sklavische Mentalität sieht Nadja in Russland unverändert vorhanden, trotz dem Wohlstand, den ein Teil der Bevölkerung nun genießt. An die vollen Regale hat sie sich gewöhnt, auch wenn sie sich nur einen Bruchteil mit ihrer lächerlichen Pension leisten kann: "Ich sehe mir alles wie im Museum an. Menschen sind komisch, ich bin auch komisch." Die Hoffnungen sind verschwunden, was bleibt, ist ein Leben, reich an Ereignissen und Begegnungen: "Erfahrungen sind doch das Kapital eines alten Menschen. Es tut mir nicht leid um mein Leben".

Der Autor ist Korrespondent in Moskau.

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