Kravattenträger - © Foto: iStock/Anchiy

Konservativ sein: Bewahren ist kein Fortschritt

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Konservatives Denken hinterlässt böse Spuren, sagt Peter Huemer und widersetzt sich Christian Moser-Sollmanns jüngstem Gastkommentar. Eine Replik zur Grundsatzdebatte.

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Konservatives Denken hinterlässt böse Spuren, sagt Peter Huemer und widersetzt sich Christian Moser-Sollmanns jüngstem Gastkommentar. Eine Replik zur Grundsatzdebatte.

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Was bedeutet konservatives Denken in der politischen Praxis? Eine zentrale Aussage dazu bei Christian Moser-Sollmann: „Die Menschen sind zwar rechtlich formal gleich, jedoch sind sie in ihren Talenten und Begabungen ungleich. Diese natürliche Ungleichheit soll der Staat nicht durch willkürliche Gesetze verleugnen. Denn der Staat ist nicht der Erzieher und Wohltäter der Menschheit.

Ganz im Gegenteil sollte sich eine Republik nicht in die Lebenswelt des einzelnen Bürgers gestaltend einmischen.“ Etwa durch Umverteilung zugunsten von Armen. Keine Einmischung! Das ist die radikale Absage an den Sozialstaat. So unmissverständlich traut sich das heute kein konservativer Politiker zu sagen. Die Folgen dieses Denkens liegen auf der Hand. Wir erleben es, wenn wir kontinuierlich vor demselben Problem stehen, es immer wieder bereden und sich doch nichts ändert: dass Kinder aus bildungsfernen Schichten statistisch eindeutig die schlechteren Aufstiegs- und Lebenschancen haben. Und wir wissen auch, welches Konzept dahintersteht, damit das so bleibt: weil der Staat nicht „diese natürliche Ungleichheit … durch willkürliche Gesetze verleugnen“ sollte. Von da kommt die Blockade. Aber der Bereich Chancengleichheit für Kinder ist natürlich nicht der einzige, wo dieses konservative Denken seine bösen Spuren hinterlässt.

Es geht schlichtweg um Gerechtigkeit

Den Frauen ging es nicht anders. Wer alt genug ist, kann sich erinnern, wie emanzipationswilligen Frauen vor einem halben Jahrhundert von christlicher und konservativer Seite versichert wurde, sie seien ohnehin „gleichwertig, aber nicht gleichartig“. Da ist es dann schon ein – allerdings fragwürdiger – Gewinn, wenn Papst Johannes Paul II. im „Brief an die Frauen“ 1995 sich zwar gegen eine „nivellierende Gleichheit“ ausspricht, aber auch keinen „abgrundtiefen Unterschied“ zwischen Mann und Frau sieht. Aber noch im Apostolischen Schreiben Rosarium virginis Mariae 2002 empfiehlt der Papst das Vorbild der heiligen Maria, „die Fragen in Demut zu stellen“.

So hat es fast 2000 Jahre früher auch der heilige Paulus gemeint. Der jahrzehntelange weibliche Widerstand gegen dieses Denken, das die Frauen aus allem, was mit Macht, Gestaltung und Selbstbestimmung zu tun hat, draußen halten wollte, hat das 20. Jahrhundert verändert, hat das Zusammenleben gerechter gemacht, nachdem sich Frauen nicht gefügt, sondern aufgelehnt haben.

Wir bezeichnen das als „Fortschritt“, indem die bestehende Ordnung eben nicht „bewahrt“ wird. Doch „Bewahren“ ist ein zentraler Begriff im konservativen Weltbild. Intelligenter Konservatismus geht anders. Dazu die berühmte Textpassage aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Der Leopard“: Sizilien 1860. Der alte Fürst ist verstört, als ihm sein Neffe mitteilt, er werde in die Berge gehen, um sich den Truppen Garibaldis im Krieg um die Einigung Italiens anzuschließen. Er erklärt dem Fürsten, warum: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert.“

Das führt uns zur Frage, ob wir den Kapitalismus, der gerade in diesen Jahren des Lampedusa-Romans eine erste „Blütezeit“ (Eric Hobsbawm) erlebt hat, angesichts seiner enormen Kraft der „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) als ausschließlich revolutionär oder auch als systemstabilisierend betrachten können. Oder beides zugleich, wie es sich spiegelt im Selbstverständnis der Wiener Ringstraßenbarone in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die das Wirtschaftsleben in bis dahin ungeahntem Ausmaß verändert haben, aber daneben – quasi als Ausgleich – in ihrem Lebensstil den alten Adel in vielem nachgemacht haben.

Der Begriff „Kapitalismus“ – als handle es sich um ein schmutziges Wort – kommt im Text von Christian Moser-Sollmann nirgends vor, obwohl wiederholt von ihm die Rede ist, etwa wenn es heißt: „Die moderne Welt ist die permanente Krise“, wobei dies merkwürdigerweise mit dem „Utilitarismus der Aufklärung“ in Verbindung gebracht wird und nicht mit dem Faktum, dass der Kapitalismus konstant in Abständen Krisen produziert, die immer heftiger werden, je globaler sich das System durchsetzt.

Aber natürlich stimmt auch, dass Aufklärung und Kapitalismus zusammenhängen, weil erst eine von Thron und Altar befreite Wissenschaft in der Lage gewesen ist, jene wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse zu gewinnen, die seit der Dampfmaschine Voraussetzung für den Siegeszug des Kapitals gewesen sind. Dass damit – nach grauenhaften Krisen – die Lebensumstände vieler Menschen verbessert worden sind, ihnen ein freieres, längeres, bis ins Alter gesünderes Leben ermöglicht wurde, ist unbestreitbar.

Aber nun scheint mit der Klimakrise ein kritischer Punkt erreicht zu sein, und radikales ökologisches Denken lässt sich wunderbar mit konservativem Denken verbinden, das die Welt als Schöpfung begreift, aber nur, wenn es nicht gesteuert ist von kurzfristigen Wirtschafts- und Lobbyinteressen, die sich ja ebenfalls als konservativ bezeichnen und vorgeben, das allgemeine Interesse, nicht eigenen Profit im Auge zu haben. Wir könnten uns daher – egal, ob gläubig oder Atheist – darauf einigen, dass es die eine Todsünde gibt, die das Überleben der Menschheit bedroht. Das ist die Gier.

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