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Der Psychologe Alvaro Ecobar-Molina ruft literarisch seine Kindheit in Kolumbien in Erinnerung.

Um zu leben, muss man erst einmal überleben. Die Kindheit des Kolumbianers Alvaro Escobar-Molina (geboren 1943) bot dafür keine guten Chancen. Sein Heimatdorf hoch oben in der Cordillera bebte immer wieder und plötzlich verschwanden Hütten in einer Erdspalte, die sich öffnete. Guerilleros vertrieben seine Familie aus dem Dorf. Der Junge mit indianischen und spanischen Vorfahren kam ins Jesuitenkolleg von Bogotá, wo er Spanisch lernte. Vor zwanzig Jahren ließ sich Alvaro Escobar-Molina in Paris nieder, als Psychologe und Kliniktherapeut. Die Menschen, denen er seine Hilfe angedeihen lässt, sind vor allem Häftlinge und Künstler, die "Gefangenen des Daseins". Jetzt, mit 60 Jahren, legt er sein erstes Buch vor, das er in einer Sprache verfasst hat, von der er bei seiner Ankunft in Paris kein Wort beherrschte. Französisch. "Der schlafende Berg": Eine Kindheit im Schatten eines Berges, der, wenn er erwacht, alles Leben zerstört. Kindheitserinnerungen von einem Psychologen, das lässt nichts Gutes, vor allem nichts Neues erwarten. Zu viel haben die akademischen Grubenleute der Seele den ersten Lebensabschnitt des Menschen schon umgepflügt. Der "kleine Indianer", wie er in der Schule von Bogotá genannt wurde, ist den Fallstricken einer allzu psychologisierenden Erinnerung aber entgangen, weil er indianische Denkungsart tief in sich trägt. Und die ist kosmisch und poetisch.

Im Morgengrauen wurde er geboren, so schreibt er, da fiel ein Strahl von weißem Licht auf das Gesicht der Mutter. Jemand sagte: "Alba", was soviel wie Tagesanbruch, Morgenröte heißt. So kam Alvaro zu seinem Namen. Schon früh bestimmen zwei Komponenten das Leben des Kindes: Eltern, die Ängste ernst nehmen und auflösen, das Kind ins Leben einbeziehen, etwa offen über Geschwisterchen reden, die "im Kommen" sind; und Großeltern, die die großen Themen des Menschseins in Geschichten verpacken, Parabeln von Leben und Tod. Am Äquator gibt es keine Jahreszeiten, und jeder Tag dauert genau von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends. Viel Zeit für Geschichten: "Weißt du, in jenem Land der Jahreszeiten passieren seltsame Dinge. Es ist dort nicht wie hier, wo alles ruhig und voller Licht ist. Dort verändert sich alles ständig." Kolumbien, das Land von Zuckerrohr und Bananen, Kaffee, Mais, Kokos, heiß und feucht, ist in seinen kühlen Bergen ein Paradies, in dem jeder Baum, jeder Bach, jede Frucht zu dem kleinen Buben sprechen. Die Menschen wissen, was gut tut und bringen es ihren Kindern und Enkeln bei: Singen und schweigen, richtig atmen, um die Angst in den Griff zu bekommen, wenn aus dem Tal der Lärm von Schießereien heraufdringt. Schulen sind weit, nicht erreichbar für Alvaro und seine vier Geschwister. Aber es gibt eine Tante, die "Schulwissen" vermittelt: Substantive, sagt die Tante, sind wie Pfeiler, die etwas Wichtiges anzeigen. Sie hängen wie Waggons an der Lokomotive, dem Verb: "Die Wörter, die ihr sagt, sind sehr wichtig. Man darf nicht irgend etwas Beliebiges dahinplappern."

Kindheit: für viele Menschen ein Rucksack, den sie ihr Leben lang nicht loswerden. Oder eine Zeit, an die die Erinnerung verblasst ist. Alvaro Escobar-Molina hatte in aller äußeren Armut eine reiche Kindheit: "Hier, in Paris, und jetzt, an diesem schönen Abend, strecke ich meine Hand in der Wohnung aus. Ich lasse sie bis zum Atlantik ziehen, lasse sie auf mein Land hinuntergleiten, und streichle meine Berge. Es ist nicht schwierig. Mein Dorf und meine Farben sind bei mir. Ich kann kommen und gehen, ohne dass ich mit meinem Körper dort sein müsste. Ich muss nur die Hand ausstrecken und die Augen schließen."

Der schlafende Berg

Roman von Alvaro Escobar-Molina Deutsch von Elsbeth Ranke

Piper Verlag, München, 2003

153 Seiten, geb., e 15,90

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