"Kultiviertes Betteln lernen"

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Die Armutsforschung ist zu aufgesplittert und zu wenig praxisbezogen, klagt der Salzburger Philosoph und Armutsforscher Clemens Sedmak. Mit kleinen Armutsbekämpfungsprojekten will er das ändern.

Die Furche: Wer ist arm?

Clemens Sedmak: Es ist traurig, aber im akademischen Diskurs ist die Antwort auf diese Frage furchtbar schwer. Es gibt unendlich viele Definitionen. Für eine gute Faustregel halte ich: Wer es sich nicht leisten kann, einmal im Monat jemand zum Essen einzuladen, der ist arm. Arm ist auch, wer nicht an den standardisierten kulturellen Aktivitäten einer Gesellschaft teilnehmen kann.

Die Furche: Überspitzt gesagt, könnte das heißen, wer sich in Monaco keine Jacht leisten kann, ist auch arm.

Sedmak: Anspruchsgrenzen festzulegen ist gefährlich. Ein Kollege hat einmal einem Sandler zehn Schilling gegeben. Da hat das Handy des Sandlers geläutet. Mein Kollege wollte daraufhin sein Geld zurück. Aber wer entscheidet darüber, was Menschen brauchen? In den Favelas in Brasilien ist in jeder Slumhütte ein Fernseher. Ist das Luxus? Nein, der Fernseher ist bei denen so etwas wie ein Grundnahrungsmittel und hilft, dass es ein bisschen weniger trist ist.

Die Furche: Hängen Wohlstand und Armut zusammen?

Sedmak: Die Armutskonferenz sagt: Wer von Armut spricht, darf von Reichtum nicht schweigen. Haben Menschen, die im Wohlstand leben, besondere Pflichten? Wenn das Reicher-Werden der einen und das Ärmer-Werden der anderen zusammenhängen, kann man Armuts- und Wohlstandsforschung nicht mehr trennen. Da geht es um Ursachenfragen und um den moralischen Stachel im Fleisch derer, die im Wohlstand leben.

Die Furche: Aus aktuellem Anlass: Ist Mutter Teresas Arbeit ein Vorbild für die Armutsbekämpfung?

Sedmak: Auch wenn manche Mutter Teresa vorwerfen, sie habe sich mit totalitären Regimen arrangiert und allein Symptombekämpfung betrieben. Mit ihrer klaren Option für die Armen hat sie in der Armutsbekämpfung mehr zustande gebracht als Tausende akademische Armutsforscher. Von ihr lässt sich gut lernen, wie man Betteln kultivieren kann.

Die Furche: Kultiviertes Betteln?

Sedmak: Sowohl Spenden als auch Betteln müssen dem Menschen seine Würde lassen. Ebenfalls wichtig ist, dass alle in einer Gesellschaft das Gefühl bekommen, etwas beitragen zu können. Die Bewegung "Movement of the least coin" ist dafür ein gutes Beispiel. In den fünfziger Jahren versuchte man in Indien die Bevölkerung zu motivieren, einmal im Monat, die kleinste Münze des Landes zu spenden. Das konnte sich jeder leisten. Hunderttausende haben mitgemacht. Es ist nicht nur viel Geld gesammelt worden, sondern es ist auch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden.

Die Furche: Ist Solidarität der Schlüssel zur Armutsbekämpfung?

Sedmak: Aristoteles hatte einmal mehr recht, wenn er meinte, das Mitleid hänge von drei Faktoren ab: Dem anderen muss etwas Schlechtes passiert sein, er muss unschuldig in dieses Übel hineingerutscht sein, und es müsste mir selbst auch passieren können. Beim Hochwasser im letzten Jahr haben alle drei Faktoren zugetroffen - und das Mitleid war groß. Wenn man aber zum Beispiel für Schubhäftlinge sammelt, ist die Rücklaufquote um vieles geringer - weil nicht alle Mitleidskomponenten von Aristoteles da sind.

Die Furche: Liegt es am fehlenden Willen des Staates, wenn es immer noch Arme gibt?

Sedmak: Ich halte es für gefährlich, wenn man alles auf den Staat schiebt. Andererseits haben Reaganomics und Thatcherism gezeigt: Wenn sich der Staat ganz zurückzieht, explodiert die Armut. Die Theorie, ein restriktiver Staat fördere die Lebenstüchtigkeit, ist falsch und gefährlich.

Die Furche: Der Staat soll also nicht zuviel und nicht zuwenig tun?

Sedmak: John Rawls hat in seiner Gerechtigkeitstheorie darauf hingewiesen: Wir müssen mit den Faktizitäten umgehen können. Menschen werden ungleich geboren. Manche Menschen haben schlechtere Lebenschancen als andere. Und die Möglichkeiten staatlicher Hilfe sind begrenzt, weil die Armutssituationen sehr viel komplexer sind, als dass sie ein bürokratisches System sanieren kann. Stichwort: ländliche Gegenden. Versteckte Armut ist dort viel größer als in einer Stadt. In einem Dorf ist der Gruppendruck so groß, dass sich viele schämen, um Sozialhilfe anzusuchen. Da kann man nicht sagen, der Staat muss offensiver werden. Diese Ungleichheiten können wir nicht ausmerzen, sondern trotz dieser Ungleichheiten müssen wir so etwas wie Gerechtigkeit erzeugen.

Die Furche: Was heißt in diesem Fall Gerechtigkeit?

Sedmak: Für Rawls ist Gerechtigkeit ein Gefüge von Regeln, auf das wir uns einigen können, wenn wir die Positionen, in die wir hineingeboren werden, nicht wissen.

Die Furche: Würde ein Grundeinkommen das Armutsproblem lösen?

Sedmak: Ich halte die Idee für attraktiv. Aber es sind dabei noch sehr viele Fragen ungeklärt. Was ist, wenn man das Grundeinkommen nur in einem Land einführt? Und wenn man es in der ganzen EU macht, verfestigt man dann nicht die Festung Europa? Andererseits, manche Menschen können nicht mit Geld umgehen. Welche Restriktionen hat der Staat dann? So einfach wie es oft dargestellt wird, ist es nicht.

Die Furche: Sie beklagen, dass Armutsforschung zuwenig in Armutsbekämpfung umgesetzt wird?

Sedmak: Ich beobachte, dass Hilfsorganisationen keine Zeit und kein Budget für Forschung haben. Da wäre Bedarf. Die Universität wiederum hat ihre eigene Dynamik und ihren Dünkel. Ich erlebe das bei mir selbst: Ich mache Armutsforschung, und wir veranstalten Symposien, und wir publizieren - aber was haben die Armen davon? Die Universität sollte daher versuchen, näher an die humanitäre Praxis heranzukommen.

Die Furche: Wie geht das?

Sedmak: Ich bin ein Fan von IKEA. Die Firma bietet billige Möbel an, die den Alltag der Menschen erleichtern und dabei sind sie unglaublich innovativ. Dieses Erfolgskonzept wäre auch für die Armutsforschung geeignet. Mit einem Fonds zur angewandten Armutsforschung möchte ich niederschwellige Projekte starten: kleine, praxisnahe Armutsbekämpfungsprojekte, nicht dicke Habilitationen, wo herauskommt, der Staat müsse da und dort ein paar Parameter ändern. Die Armutsforschung ist zudem unglaublich aufgesplittert. Armutsforschung findet in zwölf, 15 verschiedenen Disziplinen statt. Diese Forschung zusammenzubringen, könnte der Armutsbekämpfung einen kräftigen Impuls geben.

Das Gespräch führte Wolfgang Machreich.

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