"Kurz weiß offenbar nicht, wo Syrien ist"

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Können Europas Außengrenzen überhaupt dicht gemacht werden? Wie sieht es derzeit im Inneren der EU aus, und wie wahrscheinlich ist ein Rückbau der Union? Der Grüne Europa-Abgeordnete Michel Reimon rechnet nicht so bald mit einer Lösung der Flüchtlingsfrage.

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Können Europas Außengrenzen überhaupt dicht gemacht werden? Wie sieht es derzeit im Inneren der EU aus, und wie wahrscheinlich ist ein Rückbau der Union? Der Grüne Europa-Abgeordnete Michel Reimon rechnet nicht so bald mit einer Lösung der Flüchtlingsfrage.

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Der Flüchtlings-Poker geht in Brüssel in die nächste Runde. Welche Szenarien für die nächste Zeit wahrscheinlich sind, hat EU-Abgeordneter Michel Reimon mit der FURCHE besprochen.

Die Furche: Außenminister Kurz (ÖVP) meint, nach der Balkanroute müsse man weitere Flüchtlingsrouten schließen. Wäre es überhaupt machbar, alle EU-Außengrenzen dicht zu machen? Was wären die Folgen?

Michel Reimon: Man kann nie die gesamte EU-Außengrenze dicht machen, sondern nur punktuell. Diese Strategie hat bei der Balkanroute funktioniert, aber nun werden sich die Flüchtlingsströme verlagern Richtung Italien, Lampedusa, etc. Ohne den Einsatz von Gewalt wird ein völliges Dichtmachen nicht funktionieren. Ob das der Plan der europäischen Volkspartei ist, weiß ich nicht. Wenn Kurz die Schließung der österreichisch-italienischen Grenze verlangt, bedeutet das bloß, dass es andere Länder treffen wird. In den nächsten Wochen wird es in Brüssel beim Pokern bleiben, möglichst schlechte Bedingungen im jeweiligen eigenen Land zu schaffen.

Die Furche: Wenn die Leute nun in Griechenland festsitzen, wo sollen sie hin? Griechenland hat weder das Geld noch die Aufnahmestrukturen für den menschenrechtlich einwandfreien Umgang mit Flüchtlingen.

Reimon: Das griechische Sozial- und Gesundheitssystem wurde fast ausradiert - natürlich wollen die Griechen da für Flüchtlinge kein besseres System schaffen. Wir bewegen uns mit atemberaubender Geschwindigkeit auf eine Grundsatzfrage zu: Lösen wir die Vertiefung der Union, den Masterplan der letzten 30 Jahre, auf? Formen wir die EU in eine Freihandelszone um und lassen die politische Union sterben, oder schaffen wir den großen Sprung? Das steht auf Messers Schneide. Ich hoffe, dass es zur Vertragsreform und zum gemeinsamen europäischen Asylsystem kommt.

Die Furche: Wie lange könnte es bis zu einer Entscheidung noch dauern?

Reimon: Schwer zu sagen. Aber es sind sich alle einig, dass dieser Ausnahmezustand, der seit 15 Monaten besteht, untragbar ist: Permanente Krisensitzungen, wo sich alle gegenseitig und auch der EU die Schuld geben, obwohl es um nationalstaatliche Kompetenzen geht. Ich fürchte, dass es noch das ganze Jahr 2016 so weitergehen wird. 2017 muss wohl die eine oder andere Lösung her. Die Furche: Rechnen Sie noch fix mit Ihrem Job in Brüssel bis zu den EU-Wahlen 2019? reimon: Ja, ein völliges Zerbrechen der EU und eine Auflösung sehe ich nicht. Diskutierbar ist ein kompletter Rückbau. Aber einige Interessensvertreter aus der Industrie, die derzeit noch eher hinter den Kulissen ihren Unmut äußern, haben mit dieser Anti-EU-Politik ein massives Problem. Die europäische Wirtschaft ist ja auf offene Grenzen und "just in time"-Lieferungen eingestellt. Wenn es plötzlich Dauerstaus zwischen Österreich und Deutschland gibt, wird die IV nicht mehr stillhalten.

Die Furche: Für wie sinnvoll halten Sie die Option der Rücknahme von Flüchtlingen durch die Türkei?

Reimon: Es kommt auf den Deal an. Das aktuell diskutierte Resettlement ist eine unglaublich zynische Sache: Ein Flüchtling, der nach Griechenland reist, wird zurückgeschickt und stattdessen eine andere Person aus der Türkei geholt. Natürlich steigt die Türkei auf so ein Angebot ein, wenn es dafür Geld gibt. Für die Flüchtlinge bedeutet das, dass sie sich ihre Destination nicht aussuchen können - dafür gibt niemand ein paar tausend Euros aus. Da wird der Strom etwas versiegen, die Türkei weniger Leute nach Europa schicken.

Die Furche: Wie sehr nutzt die Türkei Europas aktuelle Verwundbarkeit aus?

Reimon: Erdogan pokert sehr hoch. Sein Hauptpreis sind nicht die umgesiedelten Flüchtlinge oder das Geld, sondern dass die EU den Mund hält, was seine Politik gegen die Medien, gegen die Kurden betrifft. Ich war vor zwei Wochen in mehreren Städten in Kurdistan, dort herrscht de facto Bürgerkrieg. Und die EU will noch weitere Verhandlungskapitel aufschlagen, was seine Vorgangsweise legitimiert.

Die Furche: Musste Österreich nicht irgendwann die Reißleine ziehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Reimon: Das ist mir zu kurz gegriffen: Der Bürgerkrieg in Syrien, einer Nachbarregion der EU, geht ins fünfte Jahr. Die 28 Regierungschefs kümmern sich seit fünf Jahren nicht um diese humanitäre Katastrophe - wenn nicht Flüchtlinge kämen, wäre es kein Thema. Aber es werden Waffen geliefert und Deals mit den saudischen und iranischen Financiers der Kriegsführer geschlossen. Assad bombt täglich Stadtteile. Da sind plötzlich wieder 30.000 bis 50.000 Menschen auf der Flucht. Weder die Amerikaner noch die Russen setzen geeignete Maßnahmen, auch nicht das österreichische Außenministerium. Kurz weiß offenbar nicht, wo Syrien ist.

Die Furche: Wie hoch schätzen Sie den sozial verkraftbaren Anteil von Flüchtlinge ein?

Reimon: Oft beschweren sich Leute, die noch nie in einer Notsituation waren und oder ein Flüchtlingslager gesehen haben. Die Frage ist: Schaffen wir es organisatorisch und finanziell? Da wäre der Nahostkonflikt zur Gänze schaffbar. Der richtige Ansatz kann nur ein gemeinsames europäisches Verteilungssystem sein.

Das Gespräch führte Sylvia Einöder

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