Boot - © Foto: Pixabay

Lampedusa erreicht, am Kanal erwischt

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Herbst bedeutet stürmische See im Mittelmeer, heißt mehr Flüchtlinge, deren Boote kentern, die auf ihrer Fahrt nach Europa ertrinken und tot an die Strände gespült werden. Doch auch für die Afrikaner, die Lampedusa oder das Festland lebend erreichen, ist die Odyssee nicht vorüber: Am anderen Ende Europas erwarten sie wieder Zäune.

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Herbst bedeutet stürmische See im Mittelmeer, heißt mehr Flüchtlinge, deren Boote kentern, die auf ihrer Fahrt nach Europa ertrinken und tot an die Strände gespült werden. Doch auch für die Afrikaner, die Lampedusa oder das Festland lebend erreichen, ist die Odyssee nicht vorüber: Am anderen Ende Europas erwarten sie wieder Zäune.

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Für Rudy Bollaerts, den Kommissar der belgischen Schifffahrtspolizei, ist das Flüchtlingsproblem gelöst: "Die gibt es hier nicht mehr!" Erst kürzlich war die Migrationsministerin zu Besuch in der Hafenstadt Oostende und zeigte sich zufrieden mit der Polizeiarbeit. Keine Touristen werden mehr dem "Zidane-Trick" zum Opfer fallen: öffentlich vorgeführte Fußball-Kunststücke, die die Zuschauer so ablenken, dass sie leichter bestohlen werden können.

Vor dem Sommer, der "Aktion scharf" der Polizei und der Repatriierung der Migranten hat der Kommissar anders geklungen: Das "ideale Biotop" sei Oostende für Transmigranten, die in LKWs und Containern versteckt nach England wollen. Tausende Touristen gibt es in Oostende zum Berauben und viele Wälder, die Verstecke bieten.

Die Anlaufstelle des staatlichen Wohlfahrtszentrums CAW in der Nordseestadt, eigentlich für einheimische Obdachlose bestimmt, platzte aus allen Nähten: An manchen Tagen tauchten 80 Algerier, Marokkaner und Palästinenser zum Duschen und Wäschewaschen auf. "Sie schliefen im Park beim Hafen, es gab zu wenig Nahrung und die medizinische Versorgung war unzureichend", sagt Tine Wyns, die CAW-Leiterin: "Viele kommen mit Verletzungen, die sie sich bei Stürzen von Lastern zugezogen haben. Die Krankenhäuser leisten aber nur Notversorgung. Sie nähen die Wunde, die Fäden müssen sich die Flüchtlinge selbst ziehen."

Warten mit gebrochenem Knöchel

Mit medizinischer Selbsthilfe hat Yussuf Erfahrung. Vor zwei Wochen brach er sich beim Sturz von einem zehn Meter hohen Containerturm die Knöchel, als die Polizei seinen letzten Versuch, nach England überzusetzen, stoppte. Jetzt wartet er, bis seine Beine den nächsten Versuch zulassen. Bis dahin lebt der Algerier mit einer Gruppe anderer junger Nordafrikaner versteckt im Unterholz am Hafen.

Nur eine Straße trennt das Gelände vom Bahnhof, dahinter liegt der LKW-Terminal des Hafens: Infrarotzäune und Stacheldraht sollen den Zugang unmöglich machen. Dass er es irgendwann nach England schafft, daran zweifelt Yussuf keine Sekunde. Wer bis hierher gekommen ist, den können auch die britischen Maßnahmen zur Einwanderungsbegrenzung nicht abschrecken: Weder die Ausweispflicht für Nicht-EU-Bürger, noch das streng am Arbeitsmarkt orientierte Punktesystem für Migranten. Das multikulturelle Großbritannien bleibt das Ziel für Yussuf und die anderen im Unterholz.

Ortswechsel an den französischen Hafen von Calais, wo das Transmigrations-Phänomen am größten ist: Immer wieder tauchen Gruppen von zwei oder drei Gestalten mit Mützen oder Kapuzen aus den Büschen am Wegrand der Hafenstraße auf, beobachten Laster, als wären sie Tramper an einer Raststätte. Doch auch die LKW-Fahrer passen auf: Sie müssen 2000 britische Pfund (2500 Euro) Buße zahlen, findet sich ein blinder Passagier in ihrer Fracht.

Jeden Abend verteilen freiwillige Helfer der "Association Salam" Essen an die in Calais Gestrandeten. In einer kleinen Seitenstraße am Hafen drängen sich um die 400 Personen. Anders als in Oostende sind darunter zahlreiche Frauen, und Familien mit kleinen Kindern sitzen auf den Bordsteinen und essen aus Plastikschalen. Salam wurde gegründet, um der Essensverteilung einen offiziellen Rahmen zu geben und somit die Flüchtlinge vor Polizeiübergriffen zu schützen.

Von diesen Attacken kann Thomas aus Eritrea ein Lied singen: Immer wieder kommen Polizeieinheiten in die verlassene Fabrik, in der der 24-Jährige mit über hundert anderen Flüchtlingen wohnt, und versprühen Tränengas. "Oder sie packen uns ins Auto und setzen uns irgendwo außerhalb der Stadt aus." Er selbst wurde an die belgische Grenze verlegt. 19 Stunden brauchte er für die 50 Kilometer zurück nach Calais; eine Tagesreise mehr auf einer Odyssee, die vor eineinhalb Jahren begann:

100 ertrunken, 20 gerettet

Der desertierte Soldat ließ sich von Eritrea in den Sudan schmuggeln; drei Wochen dauerte der Weg durch die Sahara im Auto, dann weiter nach Libyen und mit einem kleinen Boot von der libyschen Küste nach Italien. Thomas und seine Frau schafften es mit 20 weiteren nach Lampedusa; doch mehr als hundert Flüchtlinge überlebten die Überfahrt nicht. Während er erzählt, zittert Thomas ununterbrochen … Nach der Essensausgabe verteilen die Mitarbeiter von Salam alte Kleidungsstücke. Thomas empfiehlt sich: "Entschuldigung, ich brauche neue Klamotten."

Ein neues Gewand könnten auch Safi und seine Freunde brauchen, die einen Hafen weiter dem gleichen Traum nachhängen. Doch das Elendsquartier bei Loon Plage im Ödland von Dunkerque bekommt nur selten Besuch von Hilfsorganisationen. Eine afghanische und eine irakisch-kurdische Gruppe leben hier: über 50 Männer in zehn Hütten aus Plastikplanen, Paletten und Abfall.

Transitmigranten gehören zu der Unterschicht derer, die auf der Flucht sind. Dabei hat Safi sehr gut in der Antiterroreinheit der irakischen Armee verdient - bis er es nicht mehr aushält, bis er aussteigt: 14.000 Dollar kostet ihn die Reise mit dem Flugzeug in die Türkei; dann fünf Tage versteckt in einem Laster von Istanbul nach Paris. Am Kanal ist Endstation. Vorgestern Nacht probierte Safi wieder einmal überzusetzen: Er versteckte sich hinter einem LKW-Reifen, doch der Fahrer entdeckte ihn. Immerhin konnte er verschwinden, bevor die Polizei kam. "Wir sollten hier weg sein, bevor es Winter wird", sagt er. Die Umstehenden pflichten ihm bei - heute Nacht, morgen Nacht, niemand weiß es …

Der freie Autor berichtet für die Furche aus den Benelux-Ländern.

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