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Vor mehr als 50 Jahren fand die Ordensfrau Ruth Pfau durch einen Leprakranken ihre Lebensaufgabe. Porträt einer großen Ärztin, Managerin, Lehrerin und Mystikerin.

"Das Mysterium findet auf dem Hauptbahnhof statt“, hat Joseph Beuys einmal gesagt. Vermutlich würde Ruth Pfau dem zustimmen. Denn hinter dem Hauptbahnhof von Karachi fing bei ihr alles an. Mitten im Leben, in der McLeod Road, einem morastigen Slum der Millionenstadt. Fragt man die Nonne und Lepraärztin heute nach dem Geheimnis ihres Lebens, erzählt sie immer noch diese Geschichte: Wie sie den Flug nach Indien wegen eines Visa-Problems unterbrechen musste und von einer Mitschwester in die Leprakolonie mitgenommen wurde, wo sie den verstümmelten Leprabettler Mohammed Hassan traf, der auf allen Vieren in den Bretterverschlag kroch und sein Schicksal ergeben akzeptierte: "Ich wusste plötzlich: Hier, hier musste es geschehen. Wie? Gleichgültig. Jetzt! Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft: ein für allemal.“

Ein "verrücktes“ Leben

Das war 1960. Die Lepra, dieser Fluch, der über den Menschen zu liegen schien, ist heute unter Kontrolle. Es ist das Lebenswerk dieser Deutschen, die Pakistan zur Ehrenbürgerin machte. Sie ist nicht nur eine den Ärmsten der Armen zugewandte Ärztin. Sie ist auch Gesundheitsmanagerin und charismatische Lehrerin, Intellektuelle und Mystikerin, Menschenrechtlerin, engagiert im Dialog mit den Muslimen und als überzeugte Pazifistin in der Friedensarbeit tätig, für die sie höchste Auszeichnungen erhielt, unter anderem den Magsaysay-Award, den "asiatischen Friedensnobelpreis“.

Als katholische Nonne war sie im Rang einer Gesundheitsstaatssekretärin der Zentralregierung. Als afghanische Flüchtlinge über die Grenze im Norden die Lepra wieder ins Land brachten, baute sie im Untergrund in dem von Russen besetzten Land einen Gesundheitsdienst auf. Eine Erfolgsstory sondergleichen, scheint es. Und ein abenteuerliches - sie selbst nennt es ein verrücktes - Leben. Die Attribute "Mutter Teresa Pakistans“ oder "Engel von Karachi“ waren eilig in der medialen Öffentlichkeit. Sie hat sie immer abgelehnt. Doch was ist ihre eigene Sicht, ihre innere Bilanz?

Ihre Bücher - über 200.000 verkaufte Exemplare - waren in Deutschland ein Erfolg. Als sie mich bat, sie bei ihrem neuen Buch zu unterstützen, schlug ich vor, das in Freiburg zu tun, in einem ruhigen Kloster im Schwarzwald. Sie schrieb zurück: "Die Liobaschwestern. Ein Traum. Aber das Leben ist anders. Wenigstens für 80 Prozent der Weltbevölkerung. Und deshalb würde ich das Buch gerne hier machen, und ich bin mir sicher, es wird wesentlicher.“ "Leben ist anders“: das ist der Punkt. Es wurde auch der Titel des Buches (siehe unten).

Idylle inmitten von Gewalt

Karachi im September 2013: heiß, laut, bunt, inzwischen ein Moloch von 20 Millionen Einwohnern, Millionen Flüchtlinge aus dem Norden, die vor Krieg und gewaltigen Naturkatastrophen in diese - laut US-Magazin Foreign Policy - "gefährlichste Megacity der Welt“ am Arabischen Meer geströmt sind. Über 50 Prozent der Menschen sind arbeitslos. Und Gewalt ist an der Tagesordnung: Entführungen sind derzeit das große Geschäft. Es gibt über 2200 offizielle Morde im Jahr. Die Dunkelziffer ist groß. Nachts hallen Schüsse. Überall Militärs, Straßensperren, Kontrollen. Vor kurzem erst hatte es Erpressungsversuche in der Außenstation des Krankenhauses, in Mangopir, gegeben. Zwei Wachleute waren ermordet worden.

Mitten in Karachi das Krankenhaus, überwuchert von Bougainvilleen. Eine Insel. Am Tag meiner Ankunft feiern die Mitarbeiter Ruth Pfaus 84. Geburtstag: mit Ärzten, Patienten, mit Reden und Torte, dem Krankenhauschor - und einer feierlichen Lesung: aus dem Heiligen Koran, aus der hinduistischen Gita und der Bibel. Christen, Hindus, Muslime (Schiiten und Sunniten, die sich in Pakistan sonst gegenseitig umbringen), sie arbeiten hier zusammen. Eine Idylle. Noch ahnt niemand, dass zwei Wochen später ein Selbstmordattentat in der Kathedrale von Peshawar das Land erschüttern wird. Über 200 Tote. Der Leiter der Sozialabteilung von Ruth Pfaus Krankenhaus, der heute mitfeiert, wird allein fünf Familienangehörige verlieren.

Am Tag nach dem Geburtstagsfest ist Karachi "zu“. Ein Politiker war verhaftet worden, weil er zwei Polizisten ermordet hatte. Seine Anhänger, Schlägertrupps, gingen auf die Straße. Am übernächsten Tag dann der geplante Besuch in der Außenstation in Malir, einem der 18 Stadtteile von Karachi, mit über einer Million Einwohner, vor allem Belutschen. Hier hat Ruth Pfau ein neues Projekt ins Leben gerufen: Das Team besucht Schwerstbehinderte in den Slums - Menschen mit fortschreitender Muskellähmung, um die sich sonst niemand kümmert. Sie selbst hält derweil Sprechstunde, nach kurzer Zeit ist der Raum voll: Eine demente Alte, die sie seit Jahren als Leprapatientin kennt, der sie Zeit und Zuwendung schenkt. Oder eine Mutter mit ihrem schwerstbehinderten Kind. Dazwischen zwei ausgeheilte Leprakranke. Sie zeigen ihr die Wunden an verkrüppelten Füßen. Sie haben nicht die richtigen Schuhe. Das lässt Pfau keine Ruhe. Hat man denn schon Kontakt mit einem Schuster aufgenommen, fragt sie den verantwortlichen Leiter. Ja, aber das hätte nicht geklappt. Sie ist unzufrieden. Man sieht, wie es in ihr arbeitet.

"Nichtstun wäre noch unsinniger“

Auf der langen Rückfahrt frage ich: Ist es nicht ein Tropfen auf den heißen Stein? Ja, sagt sie. Sie hat auch keine Antwort auf das Leiden. "Vielleicht ist es unsinnig, etwas zu tun. Aber nichts zu tun“, sagt sie, "wäre noch unsinniger.“ Also macht sie weiter. Trotz ihres Alters, trotz aller Gebrechen, die auch sie kennt. Wenn sie nicht wirklich überzeugt wäre, dass Liebe das letzte Wort ist, trotz allen Augenscheins, sagt sie, dann stünde ihr eigenes Leben auf dem Spiel. Denn dann hätte alles keinen Sinn. "Vielleicht täusche ich mich“, fügt sie hinzu. "Und wenn dem so wäre?“ "Dann habe ich eben Pech gehabt.“ Und sie fragt zurück: "Wäre damit auch die Liebe sinnlos? Nein! Auch nicht das Mitgefühl, das uns verbindet. Und auch nicht die kleinen Gesten, selbst wenn sie nichts bewirken, nicht die Hilfe, die wir einander gewährt haben, um das Leben ertragbarer zu machen.“ Und die lapidare Schlussfolgerung dieser 84-jährigen, erstaunlichen Frau: "Deshalb mache ich weiter.“

Als wir am Krankenhaus aussteigen, geht Ruth Pfau noch einmal auf Salam zu, den für Groß-Karachi zuständigen "Leprosy Field Officer“, dessen Vater selber noch Leprabettler war und von Pfau geheilt wurde: Wie er das mit den Sanitärschuhen regeln wird? Wie wäre es, wenn sie in der Außenstation dauerhaft mit einem Schuster kooperieren würden. Ob sie jetzt gleich einen Termin machen können? Er ist die nächsten Wochen weg! Aber gleich am Montag nach seiner Rückkehr? Etwas genervt zückt Salam seinen Terminkalender, nickt. Man muss auch nerven können. Nicht nur der Teufel, auch der liebe Gott steckt im Detail. Mystik ist konkret. Und es wird eine Lösung geben. Damit für einige das Leben wenigstens ein wenig erträglicher wird.

Der Autor ist langjähriger Cheflektor des Herder Verlags

Leben ist anders

Lohnt es sich? Und wofür? Bilanz eines abenteuerlichen Lebens. Von Ruth Pfau. Hrsg. von Rudolf Walter. 3. Aufl., Herder 2014, 256 S., geb., E 19,60

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