"Leid, Leid und wiederum Leid"

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Eibenstein, Montag, 7. Mai 1945

Plötzliche Abreise um 23 Uhr ab Znaim.

Dienstag, 8. Mai 1945

Ankunft um 11 Uhr Vormittag in Eibenstein. Unterkunft bei Frau Brust im Pfarrhof.

Donnerstag, 10. Mai 1945

Ein Russe erscheint und zwingt mit vorgehaltenem Revolver von Koppensteiner, Bergert und Agricola die Herausgabe der Uhren. Er zielt auf die drei Männer, zuerst auf den Kopf, dann mit gestützter Hand auf das Herz und zuletzt auf die ausgestreckte Hand. Alle bleiben ruhig und gefasst. Koppensteiner und Bergert legen die Uhren auf den Tisch. Bei Karli Martin sagte der Russe: "Du jung, Soldat nach Moskau". Der Pfarrer ladet den Russen zu einem Frühstück ein. Der Russe gibt eine Uhr wieder zurück. Es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Ab heute müssen alle Männer Nachtdienst halten.

Dienstag, 15. Mai 1945

Die Verpflegung mangelt. Brot und Fleisch wird knapp . Martin wird zum Lebensmittelverwalter eingesetzt. Der Pfarrer hat von Bauern eine Kuh und ein Kalb erstanden. Er hat nicht nur für seine Schützlinge im Pfarrhof, ca. 70 Personen, sondern auch für seine umliegenden Gemeinden zu sorgen.

Donnerstag, 17. Mai 1945

Ein Tag schöner als der andere. Die Sonne lacht und strahlt und an ihren bunten Liedern klettert die Lerche selig in die Luft. Aber man empfindet nichts. Im Herzen und im Gehirn ist eine fürchterliche Leere und nur das große Fragezeichen "Warum" bewegt uns. Warum dieses Leid? Warum diese Not? Warum dieses Elend? Warum solche Demütigungen? Warum diese entsetzliche Angst vor der Zukunft? Herrgott! Warum? Warum?

Ich spreche da immer von mir, aber ich bin nur das Einzelschicksal von all den anderen, die hier im Pfarrhof sind. Da sind Wiener, Znaimer, Retzer - und alle fragen "Warum". Was soll aus uns werden? Was wird die Zukunft bringen? Werden wir nach Sibirien verschickt?

Gestern von Znaim wieder eine niederschmetternde Nachricht erhalten. Ein Soldat, der von Znaim kam, erzählt, dass alle deutschen Männer von Znaim verschleppt werden, die deutschen Geschäfte und die deutschen Wohnungen werden geplündert und kurz und klein geschlagen. Heute um 8 Uhr war Begräbnis eines siebenjährigen Jungen von Flüchtlingen aus dem Buchenlande. Am Weg war eine nicht explodierte Granate, der Junge warf darauf mit Steinen, sie krepierte und tötete denselben. Gestern war ein sehr unruhiger Tag. Ein Auto nach dem andern fuhr durch unser Dorf. Wägen voll Flüchtlinge kamen. Dann wieder eine Menge Rinder und Pferde, die die Russen aus den Bauernhöfen wegtrieben. Ein Reiter kam zum Pfarrhof, als auf sein Klopfen nicht geöffnet wurde, ritt er weiter. Die Aufregungen hören nicht auf ...

Freitag, 18. Mai 1945

Pest und Cholera sind nicht in Wien. Hunger herrscht wohl in Wien. Die Leute erhalten für die Woche ein Viertel Laib Brot. In den äußeren Bezirken sollen alle Frauen von den Russen vergewaltigt worden sein. Wien ist noch immer voller Russen. Jetzt nach Wien zu gehen ist noch nicht ratsam, da diese alle Männer auf der Strasse auffangen, sogar Männer bis zu 65 Jahren, und sie deportieren. Wohin ist unbekannt. Außer diesen Nachkriegserscheinungen geht Wien wieder seinen gewohnten Gang.

Wer nie sein Brot mit Tränen aß, der kennt euch nicht, ihr kummervollen Nächte. Seit 9. Mai halten wir fünf Männer Nachtwache. Ich bin eingeteilt von 2 Uhr nachts bis 8 Uhr früh. Vorher kann ich ab 20 Uhr schlafen. Es kommt aber meistens nicht dazu, gewöhnlich wird es 11, 12 Uhr, da die anderen Männer noch gerne ein kleines Plauscherl halten. Mein Nachtlager aus zwei der Länge nach gelegten Matratzen, einem Kopfpolster und zwei Decken. Koppensteiner ruht sich auf dem Diwan aus und Martin auf dem Notbett. Bis jetzt haben wir alle angezogen geschlafen. Heute habe ich zum ersten Mal meine Hose ausgezogen. Mein Hemd, meine Unterhose und die Socken habe ich noch nicht gewechselt. Woher auch? Alles, was ich anhabe, ist meine ganze Habe. Ich fühle mich stark. Zwei Uhr nachts. Man sitzt allein beim gedämpften Licht in der alten ruhigen Pfarrstube. Die Deckenbalken sind aus dunkelgebeiztem Holz, am Mitteltram ist die Jahreszahl 1730 sichtbar. Die Mauern sind dick und die Fenster klein. Nun sitzt man da und starrt vor sich hin. Manchmal schrickt man zusammen, wenn man ein Motoren- oder Rädergeräusch von der Straße her hört und atmet erleichtert auf - wenn es in der Ferne verschwindet.

Mittwoch, 6. Juni 1945

Die wildesten Gerüchte schwirren auf. Von Znaim können die Österreicher bis 10. Juni ihre Sachen holen. Meine Frau ist selig. Obwohl sie nicht gehen kann, will sie unbedingt von Retz nach Znaim zu Fuß gehen. Heute hätte sie mit einem Wagen nach Retz fahren können. Der Kutscher hat abtelefoniert, da die Russen einem anderen Bauern das Fuhrwerk weggenommen haben und die Gemeinde die Erlaubnis nicht hergibt. Die drei Frauen, die mit meiner Frau fahren wollten, waren verzweifelt. In Freistadt ist der Amerikaner. Ab 10. soll der Russe erlauben, dass die Österreicher hinübergehen können. Von Siegharts soll der Russe alle Männer, alt und jung, abgeführt und nach Moskau zum Wiederaufbau verwenden. Heute ist unter russischer Bewachung ein Wagen voller Frauen und Kinder durchs Dorf gefahren. Es soll bereits eine amerikanische Kommission in Wien sein. Der Amerikaner und Russe sollen sich in Wien nicht vertragen. Alle Männer aus jedem Dorf soll der Russe einziehen und als Soldaten verwenden. Auch die ganz alten, zumindest zum Schanzengraben. Znaim soll zu Österreich kommen. Die Frauen der Honoratoren von Znaim müssen dort Straßenkehren. 70 Männer sollen sich erschossen haben. Viele Familien haben sich vergiftet. Die deutschen Männer werden blutig geschlagen. Auf jeder Haustür ist ein Zettel: Dieses Haus gehört dem tschechischen Partisanen N.N. "Die russischen Soldaten wollen nicht mehr weiter, darauf soll ihnen Stalin das Plündern erlaubt haben. Ein russischer Offizier sagte in Eibenstein, die Russen bleiben solange in Österreich, solange der Russe sich etwas holen kann. Ein anderer sagt, bis zur Ernte bleiben wir hier und ein dritter, vor Weihnachten ist gar nicht zu denken, dass der Russe Österreich verlässt.

Es ist zum verzweifeln. Ich kann nichts anderes berichten als Leid, Leid und wiederum Leid. Heute sind es gerade ein Monat (dreißig Tage), dass wir in Eibenstein sind und jeder Tag war ein Gang nach Golgatha. Jeden Tag hat zumindest ein Flüchtling Tränen in den Augen gehabt. Von den durchweinten Nächten will ich gar nicht reden. Gestern war ich mit Dr. Schmid in Waidhofen. Abmarsch von Eibenstein um 5 Uhr früh. Ab Reith mit Fuhrwerk nach Waidhofen. Um 11 Uhr waren wir dort.

Einige Dörfer hinter Reith begegnete uns ein Zug Männer in Viererreihen, ca. 50 bis 60, vorn 2 Russen rückwärts 2 Russen und an der Seite je 3 Russen mit entsichertem Maschinengewehr. Ein Mann, der im Wagen miffuhr, rief einen Bekannten im Zug an, sofort richtete der Russe mit befehlenden Worten sein M.G. auf den Frager. Die Männer verhielten sich ruhig und gaben keine Antwort. Aber diese Gesichter! Die werden mir unvergesslich sein. Alle Gefühle konnte man darin lesen. Hass. Verzweiflung, Zorn, Wut, Empörung, Resignation, Gleichgültigkeit, aber alle hatten die Angst in den flackernden Augen: "Wohin werden wir geführt?" ...

Frauendorfer ist mit seiner Gattin von Drosendorf gekommen. Er erzählt die gleichen Geschichten, die ich bereits geschildert habe und das Herz versteinern. Von Znaim sind bereits 17.000 Deutsche vertrieben. Frau Dr. Ilsinger, die Gattin des bekannten Rechtsanwaltes, eine vornehme Dame von Geist und Witz, wurde 15 mal vergewaltigt. Sie hat Gift genommen. Ihr Mann wurde mit einem Handwagerl gesehen und sucht seinen Buben. Von all den Honoratoren den erbeingesessenen Bürgern von Znaim, die ich ja gut kannte und bei denen ich öfters eingeladen war, jeder einzelne Fall ist ein Schicksal für sich. Ich kann und will nicht mehr von all dem Leid berichten. Der Herrgott kann doch nicht zulassen, dass wegen des Verbrechens einiger Weniger das ganze deutsche Volk so furchtbare und entsetzliche Leiden und Qualen erdulden muß. Oder sind wir wirklich dem Untergang geweiht? Dann doch sofort den Genickschuß!

Das ganze Tagebuch, nur ein Monat, ist nur eine Kette von Leid und Kummer und Sorge. Bei bestem Willen kann ich nicht mehr weiter. Ab morgen ist für mich ein neuer Straßendienst. Ich bezweifle, ob die nächste Generation empfinden kann, was da an Herzblut in diesen Zeilen enthalten ist. Man vergisst sehr schnell. Wir haben doch den Weltkrieg mitgemacht, die Nachkriegszeit, die Inflation, die Deflation. Das Dörrgemüse, die Wrucken, das Kukurutzbrot, das Cornedbeef. Durch die ganze Welt gellte der Ruf: "Nie wieder Krieg!" Die Menschheit vergaß die Schmerzen, da kam der Herr A. H. erklärte dies alles für Nonsens und ein 80 Millionen Volk fällt der Vernichtung anheim. Das nachfolgende Lied der Mütter gegen den Krieg wurde von den Nazi konfisziert:

"lch habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen. Ich zog ihn auf als Stolz und Freude meiner alten Tage. Wer

wagt es, ihm die Waffe in die Hand zu drücken, damit er einer andern Mutter teures Kind erschlägt: Es würde niemals einen Krieg mehr geben, wenn jede Mutter es hinausschreien würde: Ich habe meinen Sohn zum Krieger nicht erzogen!" ...

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