Mehr Europa wagen

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Mit der Fortschreibung des Bisherigen hat das Projekt Europa keine Zukunft.

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Mit der Fortschreibung des Bisherigen hat das Projekt Europa keine Zukunft.

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Einmal mehr, diesfalls besonders schmerzlich, hat sich die Europäische Union als Elitenprojekt erwiesen. Die Kluft zwischen opinion leaders, zwischen urbanen, besser gebildeten, einkommensstärkeren Schichten und den "Menschen draußen" lässt sich nach dem 55-Prozent-Nein der Franzosen zur eu-Verfassung nicht mehr wegschreiben oder schönreden. Eigentlich ließ sie sich das nie - und eigentlich haben alle gewusst oder geahnt, dass es irgendwann einmal "krachen" würde. Jetzt ist es so weit - und wenn sich nicht in den Niederlanden ein "Jetzt erst recht"-Effekt einstellt, folgt die nächste Abreibung auf dem Fuß.

Mit Ideen begeistert man keine Massen, der Friede ist zu selbstverständlich, als dass die Rede vom "Friedensprojekt" mobilisieren könnte, der nie dagewesene Wohlstand aber wird - fälschlicher Weise - nicht der eu und dem Binnenmarkt zugeschrieben, sondern vielmehr als etwas dadurch Bedrohtes empfunden. Die Gretchenfrage aller Politik gilt für die europäische Agenda in besonderer Weise: Wie lassen sich für sinnvoll erkannte Ziele auf die Lebenswelt(en) breiter Kreise herunterbrechen? Der Grat zwischen elitärer Abgehobenheit und plattem Populismus ist schmal - wiederum: zumal bei eu-Angelegenheiten; einfach deswegen, weil diese "weiter weg", schwieriger vermittelbar, komplexer sind als die einigermaßen vertrauten nationalen Verhältnisse. Brigitte Ederer hat seinerzeit immerhin versucht, diesen Grat zu beschreiten - mit ihrem berühmten "Tausender" -, und ist dafür bestenfalls milde belächelt worden. Vielleicht war der Sager ja auch allzu durchsichtig, doch die meisten anderen unterziehen sich erst gar nicht solchen kommunikativen Mühen.

"Niemand hat es gewagt, denen (den Wählerinnen und Wählern; Anm.) zu erklären, dass wir in einer freien Marktwirtschaft leben. Die französische Linke glaubt, dass man Frankreich regieren kann, wie in den sechziger Jahren. Sie glauben, das französische Sozialmodell muss das beste sein, auch wenn es scheitert. Es gibt einen unausgesprochenen Nationalismus der Linken." Der so sprach, ist kein französischer Unternehmervertreter, sondern Daniel Cohn-Bendit, die Galionsfigur der europäischen Grünen (in einem Format-Interview). Hier tut sich ein breites Betätigungsfeld für die europäischen Eliten auf, das freilich schon längst lustvoll von Populisten aller Schattierungen beackert wird: Wer unternimmt es, den Menschen in ihrer Sprache klar zu machen, dass mehr Europa nicht weniger Sicherheit (auf allen Ebenen), sondern mehr bedeutet - und gleichzeitig auch mehr Freiheit; dass aber nicht alle (vermeintlichen oder tatsächlichen) früheren Sicherheiten weiterhin zu haben sind - auch nicht ohne beziehungsweise mit weniger Europa?

Hier fehlt es, wie Franz Fischler dieser Tage im Ö1-Morgenjournal konstatiert hat, schlicht an leadership. In der ihm eigenen Art, unangenehme Wahrheiten gelassen auszusprechen, meinte Fischler auf die Frage, ob die eu ihre Politik ändern müsse, eher sei es an den Mitgliedsländern ihre Politik zu überdenken. Denn, so könnte man ergänzen, sie sind ja nach wie vor im wesentlichen "die eu". Das europäische Führungspersonal aber hat in den letzten Jahren wenig ausgelassen, um das Projekt Europa zu beschädigen - vom Umgang mit dem Stabilitätspakt über die Türkeifrage bis zu den Österreich-Sanktionen, und auch die Diskussion über die Verfassung selbst war nicht dazu angetan, die Bürgerinnen und Bürger glauben zu machen, hier entstehe Großes.

Allein, Kohl und Mitterrand kommen nicht wieder - und würden, nebenbei bemerkt, in ihrem patriarchalen Stil heute schon anachronistisch wirken (was ihre Verdienste nicht schmälert). Ihre in viel zu großen Schuhen schwimmenden Nachfolger, Schröder und Chirac, könnten auch schon bald Geschichte sein. Was die potenziellen Neuen an Gewicht auf die europäische Waagschale bringen, lässt sich noch nicht abschätzen.

Sicher ist indes, dass die Fortschreibung des Bisherigen für die Zukunft nicht taugt. Eine Neuverhandlung der Verfassung sei politisch nicht machbar, unrealistisch, heißt es. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, eine Art von markanter Zäsur oder Neubeginn sei unerlässlich.

rudolf.mitloehner@furche.at

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