6756434-1967_48_06.jpg
Digital In Arbeit

Mehrheitswahl schon 1969?

Werbung
Werbung
Werbung

Was die Wahlrechtsretform anlangt, so müssen beide Regierungsparteien ihren Anhängern gut zureden, sich ebenfalls an das Wort zu halten, das man sich bei Errichtung der Großen Koalition gegeben hat. Darnach soll noch vor 1969 das Mehrheitswahlrecht im Grundgesetz verankert werden, um erstmals 1973 in Anwendung zu kommen. Vorübergehend hatte es den Anschein, als wolle die Union schon 1969 nach dem Mehrheitswahlrecht wählen lassen. Daraufhin schoß unverzüglich eine heftige Polemik empor, die aber haarscharf am Ziel vorbeiging. Ganz so weit war die Union nämlich noch nicht.

Für 1969 stellt sich allerdings die undurchsichtige Frage, was auf den rechten und linken Flügeln der deutschen Politik bis dahin geschehen wird. Wie stark wird die NDP werden? Was wird sich auf der Rechten noch bilden? Was auf der Linken? Werden diese Kräfte nicht anwachsen, wenn die große Koalition zusammenbleibt? Wird also nicht Flugsand, der sich bisher bei der Union und SPD festgesetzt hatte, wegfliegen und anderswo häufeln?

Dies alles macht deutlich, daß die Programme der Union und der SPD nicht mehr das beherrschende

Thema sind, wenn der Wähler sich fragt, wem er seine Stimme geben soll. Vielmehr breitet sich hier und da allgemeine Staatsverdrossenheit gegen „Bonn“, gegen die Regierungen und Parteien aus, nicht unähnlich manchen Stimmungen in der Weimarer Zeit. Dies wiederum kann den Gedanken nahelegen, ob es nicht umsichtiger wäre, schon 1969 nach dem Mehrheitswahlrecht wählen zu lassen. Dann wäre reiner Tisch gemacht. Die Entscheidung würde lauten: Union oder SPD?, denn beide Parteien hätten alle Aussicht, das Rennen in so gut wie allen 400 oder 500 Wahlkreisen unter sich auszumachen. Die kleinen Parteien, die sich erst noch in der Sammlung befinden, wären aus dem Bundestag verbannt. So wird die Bemerkung eines führenden CDU-Politikers verständlich, am liebsten würde er das Mehrheitswahlrecht schon 1969 angewandt sehen.

Auf diese Bemerkung reagierte die SPD mit hoher Empfindlichkeit. Sie hatte verstanden, die Union wolle nun schon für 1969 das Mehrheitswahlrecht haben. Dagegen fuhr die SPD sofort schärfstes Geschütz auf und erinnerte an die Koalitionsabsprache, wonach das Mehrheitswahlrecht zwar noch vor 1969 — weil

bis dahin die Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien sicher ist — im Grundgesetz verankert, jedoch erst ab 1973 angewendet werden soll.

Kritische vier Jahre

Aber danach zu rufen, bestand gar kein Anlaß. Bundesinnenminister Lücke wird Anfang nächsten Jahres dem Bundestag gar keine andere Vorlage zuleiten als die, die bei der Regierungsbildung vereinbart worden ist. Wie weit die Reform dann eine Mehrheit findet beziehungsweise wie weit sie zurechtgestutzt wird, darüber schließt man besser keine Wette ab. Erst wird man sich jeweils innerhalb der zwei Regierungsparteien, dann werden sich die zwei Parteien untereinander zusammenraufen müssen.

Was zwischen 1969 und 1973 werden soll, bleibt bei dieser Planung dem geneigten Wähler überlassen. Ein Ubergangswahlrecht hat kaum Aussichten. Damit bleibt der Union oder der SPD, je nachdem, wer 1969 die meisten Stimmen auf sich vereinigt, immer noch die Möglichkeit vorbehalten, mit der FDP eine Koalition zu bilden oder die Große Koalition fortzusetzen. Wer heute die Lösung wüßte, der wäre ein großer Prophet Bis 1969 werden aber die führenden Leute in beiden Parteien alles aufbieten, damit die broße Koalition bleibt, um die Aufgaben zu erfüllen, die ihr gestellt sind. Bei der SPD ist Herbert Wehner hierbei der Bannerträger, der damit steht und fällt.

Die politische Unsicherheit, die durch diese Verhältnisse heraufbeschworen wird, läßt sich mit den Händen greifen. Es wird künstlich eine Übergangszeit gebildet, die voller Fragezeichen ist und schwerlich der politischen Stabilität nützlich sein kann. Auch ein Zwischenspiel zwischen 1969 und 1973 mit einer kleinen oder gar einer Mini-Koalition wäre wahrscheinlich alles andere als ein stabilisierender Faktor. Möglich, daß sich die Spitzen von Union und SPD eines Tages unter Berufung hierauf dahin einigen, daß beide Parteien bis 1973 das Heft in den Händen behalten sollten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung