Menschenrecht und Provokation

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Bettelnde Menschen erhitzen häufig die Gemüter, nicht nur in Salzburg. Eine Tagung hat dieses Phänomen thematisiert - und Bettlern zugehört.

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Bettelnde Menschen erhitzen häufig die Gemüter, nicht nur in Salzburg. Eine Tagung hat dieses Phänomen thematisiert - und Bettlern zugehört.

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Den Mann, nennen wir ihn Dimitri, kenne ich schon lange vom Sehen. Ihm fehlt ein Bein, er sitzt im Rollstuhl am Gehsteig und hält einen Pappbecher in der Hand: ein rumänischer Bettler. Seit kurzem weiß ich, dass er 56 Jahre alt ist, viele Jahre als Lehrer gearbeitet hat, bis er sich bei einem staatlichen Arbeitseinsatz etwas eingetreten hat. Der Fuß wurde falsch behandelt und musste amputiert werden. Für eine Prothese hatte er kein Geld, und in den postkommunistischen Staaten gab es für Behinderte keinen Platz. So kam Dimitri als Bettler nach Wien. Hier verdient er im Durchschnitt täglich 15 Euro, mit denen er seine Wohngemeinschaft unterstützt - seine Frau und deren Tochter mit Mann und Kind. Er würde gern Deutsch lernen, aber das Geld reicht für Kurse nicht aus.

All das hat Dimitri vergangene Woche bei der Tagung "Betteln. Eine Herausforderung" erzählt - einer Veranstaltung vom Friedensbüro Salzburg und dem Bildungshaus St. Virgil, die mitten hineinfiel in eine aufgeheizte Debatte: Nachdem der Verfassungsgerichtshof Ende 2012 das absolute Salzburger Bettelverbot gekippt hatte, hat sich die Zahl vor allem ausländischer Bettelnder in der Innenstadt auf bis zu 150 erhöht. Derzeit sind in Salzburg das aggressive, aufdringliche Betteln, das Betteln mit Kindern oder das Organisieren von Betteln verboten. Künftig wird die Einführung von Bettlerlizenzen, die Schaffung von Verbotszonen oder das Verbot von gewerbsmäßigem Betteln - wie in Wien, Niederösterreich, Kärnten und Tirol - überlegt. In den kommenden Wochen sollen nun zwei Arbeitsgruppen Maßnahmen prüfen, wie man die Situation verbessern kann.

Doch warum sind diese Menschen überhaupt gekommen? In den Erzählcafés der Salzburger Tagung geben die Bettelnden - vor allem Frauen aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei - interessante Einblicke. Da sind etwa vier Frauen, denen das Hochwasser die Häuser weggeschwemmt hat. Die EU-Unterstützung für den Wiederaufbau ist in den Händen des Bürgermeisters geblieben. Mit dem Geld, das sie hier erbetteln, können sie nur ihre Familie unterstützen, nicht aber ihre Häuser aufbauen. Deshalb kommen sie immer wieder.

Anders als oft kolportiert, sind auch nicht alle Armutsmigranten Roma. Auch die vier Bulgarinnen gehören nicht dieser Volksgruppe an, wie sie betonen. Die Roma stehen immer an unterster Stelle, sowohl in den Herkunftsländern als auch in der Hierarchie der Bettelnden in Österreich, weiß der Salzburger Sozialpsychologe Heinz Schoibl. Und der langjährige Balkan-Berichterstatter Norbert Mappes-Niediek zeigt in seinem Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" (2012) auf, dass die Vorurteile gegen Roma aus einem lange eingeübten Rassismus stammen. Wer sie als dumm oder arbeitsscheu stigmatisiert, übersieht freilich, dass in den 1960er und 70er Jahren hundertausende Roma aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland kamen, um in der Autoindustrie zu arbeiten.

In Rumänien, Bulgarien, der Slowakei und Ungarn war der Fall des Sowjet-Systems und der Beitritt zur EU nicht für alle ein Schritt in eine bessere Zukunft. Die Roma etwa, die in Rumänien rund zehn Prozent der Bevölkerung stellen, hatten bis etwa 1990 alle Arbeit, so Mappes-Niediek. Nach der Übernahme der Industrie durch EU-Firmen und internationale Konzerne wurde jedoch "umstrukturiert". Die Preise aber kletterten auf westeuropäisches Niveau. Zwischen 2002 und 2011 verließen deshalb ungefähr zwölf Prozent der Rumänen das Land, die allermeisten gut ausgebildete Arbeitskräfte, die in- und außerhalb der EU Arbeit fanden. Übrig geblieben sind die schlecht Qualifizierten, die sich entweder am Land mit Subsistenzwirtschaft und Tauschhandel über die Runden bringen, oder in die reichen EU-Staaten zum Betteln gehen, um ihre Familien zu erhalten.

Bessere Zukunft für die Familie

Unqualifizierte Arbeiter verdienen in Rumänien rund 150 Euro netto im Monat, sagt Ana-Maria Palcu von der Diakonie Rumänien. Natascha, die Hauptperson des gleichnamigen Dokumentarfilms von Ulli Gladik, erhält jedoch mit dem, was sie in Österreich erbettelt, pro Tag etwa 20 Euro für ihre vierköpfige Familie in Bulgarien. "Die Leute kommen, weil sie ihren Kindern eine bessere Zukunft geben wollen", sagt Palcu.

In den ehemaligen Ost-Staaten ist die Großfamilie das einzige verlässliche Sicherheitsnetz geworden. Hier wird das Überleben organisiert, und sei es in Form von gemeinsamen Reisen nach Österreich oder in die Schweiz, um zu betteln. Der Verdacht, dass kriminelle Hintermänner diese Reisen organisieren, ließ sich bisher nur vereinzelt bestätigen. In Bern etwa arbeiten seit 2009 im Projekt "Agora" Polizei und Sozialarbeiter intensiv zusammen, um organisiertes Betteln zu verhindern, erzählt Alexander Ott, Co-Leiter des Kooperationsgremiums gegen Menschenhandel im Kanton Bern. Seither habe es nur zwei Fälle von Menschenhandel gegeben.

Das scheint auch der Wiener Situation zu entsprechen. In den letzten Jahren wurden zwar hunderte Menschen wegen organisierter Bettelei angezeigt - allein 2013 waren es 413 Personen - und es gab auch Verwaltungsstrafen. Zu einer strafrechtlich relevanten Verurteilung ist es aber nur 2011 ein Mal gekommen, erklärt Caritas-Sprecher Klaus Schwertner. Die Kriminalisierung der Armutsmigranten von Seiten der Polizei sei eine unzulässige Verallgemeinerung.

Dass das österreichische Strafgesetz ausreicht, um Missbrauch beim Betteln zu verhindern, darüber sind sich die meisten Experten bei der Tagung einig. Der Verfassungsgerichtshof erlaubt "stilles" Betteln als Teil des Menschenrechts auf freie Meinungsäußerung im öffentlichen Raum. "Öffentlichen Orten (...) ist die Begegnung mit anderen Menschen immanent", heißt es in der Erklärung. Generelle Bettelverbote seien daher nicht verfassungskonform.

Armutsmigranten aus Bulgarien, Rumänien und der Slowakei sind zudem EU-Bürger, die hier Arbeit suchen können, betont Nikolaus Dimmel. Doch in Österreich, wo 2013 über 90 Prozent aller neuen Arbeitsplätze Computerkenntnisse voraussetzten, reichten "Hacke-und-Schaufel-Qualifikationen" nicht aus. Armutsmigration und Bettelei seien strukturelle Probleme, die durch Verbot und Kriminalisierung nicht zu lösen seien. Bettelnde bräuchten vielmehr Notschlafstellen, niederschwellige Sozialarbeit und eine medizinische Basisversorgung, heißt es in Salzburg bei einem runden Tisch.

Am dringlichsten ist jedoch der Transfer von Wissen und Geld aus den reichen EU-Staaten in die armen - konkret Investitionen in Bildung, Gesundheit, Wohnen und eine auf Einzelfälle bezogene Hilfe, fordert Ana-Maria Palcu. Erst dann haben Menschen wie Dimitri zu Hause wieder eine Perspektive.

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