Merkels Rondo alla turca
Die längst fällige Kehrtwende in der europäischen Flüchtlingspolitik dürfte vollzogen sein. Keineswegs gebannt ist die Gefahr einer weitgehenden Auslieferung an die Türkei.
Die längst fällige Kehrtwende in der europäischen Flüchtlingspolitik dürfte vollzogen sein. Keineswegs gebannt ist die Gefahr einer weitgehenden Auslieferung an die Türkei.
Spät, aber doch scheint sich Europa zu besinnen, dass es nicht das Auffangbecken für die Elenden und Entrechteten dieser Welt sein kann. Weil die Minimierung von Elend und Entrechtung nur in den betroffenen Ländern und Regionen selbst gelingen kann - mit europäischer Unterstützung aller Art - nicht aber durch, noch dazu ungeregelten, Import der Misere. Auch hier stimmt der Grundgedanke der Umverteilung nicht: dass die einen gewinnen, wenn andere verlieren. Wer dieser - nur vordergründig humanen - Logik folgt, produziert am Ende lauter Verlierer. Grenzziehung und -sicherung ist also ein Gebot der Selbstachtung, ihre Vernachlässigung bedeutete langfristig Selbstaufgabe.
Die selbsternannten Eliten des öffentlichen Diskurses halten indes unverdrossen an jener Sicht der Dinge fest, welche das aktuelle Spiegel-Cover (zugegebenermaßen graphisch genial) visualisiert: eine Collage europäischer Wahrzeichen (Eiffelturm, Reichstag, Big Ben etc.), umgeben von den wuchtigen Mauern des Castel del Monte Friedrichs II. (13. Jh.) - ein Sinnbild der "Festung Europa" also; mittendrin, klein und einsam, die winkende deutsche Kanzlerin; dazu der Titel: "Wir schaffen das" - und klein darunter gesetzt: "offene Europa ab und riskieren unsere Zukunft".
Kanzlerin auf verlorenem Posten
Richtig daran ist nur, dass Angela Merkel zunehmend auf verlorenem Posten steht. Freuen kann man sich darüber nicht, denn ohne ein starkes Deutschland kann die Europäische Union nicht funktionieren. Dass die EU noch nicht vollends zu einer zentralistischen Transfer-und Schuldenunion degeneriert ist, ihre ehemals leitenden, auf christlichem Wertefundament fußenden Prinzipien Freiheit, Vielfalt und Wettbewerb nicht gänzlich aufgegeben hat, ist ganz wesentlich Deutschland zu verdanken.
Aber in der alles andere überlagernden Causa prima der letzten Monate versagen immer mehr politische Entscheidungsträger -von der Bevölkerung gar nicht zu reden - Angela Merkel die Gefolgschaft. Dass bei dieser europäischen Kursänderung der österreichische Außenminister eine nicht unwesentliche Rolle spielt und noch dazu zu Recht darauf verweisen kann, früher als andere die Dinge beim Namen genannt zu haben, verdient auch lobende Erwähnung.
gefährliche türkische Karte
Ungeachtet dieser grundsätzlich positiven Entwicklungen ist indes eine Gefahr keineswegs gebannt, und auch hier trägt leider die deutsche Kanzlerin die Hauptverantwortung: die türkische Karte, also die Auslieferung an einen semidiktatorisch agierenden islamisch-totalitären Potentaten. Man kann es als gutes Zeichen interpretieren, dass beim letzten EU-Gipfel noch keine Einigung mit der Türkei zustandegekommen ist, aber man muss befürchten, dass die Dinge hier schon zu weit gediehen sind, als dass es noch zu einer Kehrtwende kommen könnte. Dass Europa die Türkei braucht, ist unbestritten. Aber der Versuch, an ein Land, das mindestens so sehr ein Teil des Problems wie einer allfälligen Lösung ist, genuin europäische Aufgaben zu delegieren, ist nicht nur dumm, sondern auch unanständig.
Hier rächt sich freilich auch ein weit hinter Merkels Zeit zurückgehendes doppelbödiges Verhalten Europas im Umgang mit der Türkei. Statt sukzessive so etwas wie eine "privilegierte Partnerschaft" aufzubauen, die eben definitiv keine Mitgliedschaft in der EU bedeuten würde, ist man einen Schlingerkurs zwischen Anbiederung, Abweisung und Ignoranz gefahren. Nun sitzt die Türkei gegenüber einem ausgelaugten, verunsicherten und verängstigten Europa am längeren Ast und kostet diese Situation aus. Ein europäisches Rondo alla turca, welches anders als Mozarts "türkischer Marsch" nicht in Dur, sondern in Moll enden könnte.
rudolf.mitloehner@furche.at
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