Migration und Schule oder: Das große Versagen

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Hüseyin Özcelik hat es geschafft. Der Sohn einfacher Gastarbeiter aus der Türkei hat 2005 an der TU Wien im Studienfach Elektrotechnik sub auspiciis praesidentis promoviert - als erster türkischer Staatsbürger in Österreich. Es war der Gipfel eines glücklich verlaufenen Bildungswegs: Schon als Kind hatten ihn seine Eltern in den Kindergarten geschickt. Später schaffte er es in die AHS, von der er an eine HTL für Elektrotechnik wechselte. An der TU Wien motivierte ihn schließlich ein Professor zum Doktorat. Heute ist der 37-Jährige Geschäftsführer eines Bauunternehmens.

Hüseyin Özcelik ist die große Ausnahme -in einem Land, in dem Kindern "mit Migrationshintergrund" eher eine Zukunft als potenzielle Bildungsverlierer blüht. Jede Statistik belegt es aufs neue: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit nicht-deutscher Umgangssprache liegt etwa österreichweit bei 20 Prozent, jener an den Sonderschulen bei 30 Prozent (in Wien sogar bei 56 Prozent!); bei der letzten Mathematik-Bildungsstandardtestung der vierten Volksschulklassen haben 19 Prozent der Zuwandererkinder, aber nur zehn Prozent aller Schüler den vorgegebenen Standard nicht erreicht; und bis zu 26 Prozent der Migrantenkinder werden Schulabbrecher; bei Kindern ohne Migrationshintergrund sind es nur 4,7 Prozent.

"Soziale Herkunft ist relevant"

Warum ist das so? Heidi Schrodt, ehemalige Direktorin des Wiener Traditionsgymnasiums Rahlgasse und umtriebige Frontfrau der Initiative "Bildung grenzenlos", hat in einem aufschlussreichen Buch Antworten darauf gesucht. "Sehr gut oder Nicht Genügend? - Schule und Migration in Österreich" nennt sich das Opus, in dem sie nicht nur die statistische Faktenlage darlegt, sondern auch mit Expertinnen und Experten sowie Betroffenen spricht und Best-Practice-Projekte vor den Vorhang holt.

Bald schon wird jedoch klar, dass die Konzentration auf den Migrationsaspekt per se nicht reicht bzw. sogar irreführend ist: Eine nichtdeutsche Alltagssprache allein muss nämlich noch kein Risikofaktor sein, wie Schrodt selbst betont. Erst die Kombination mit einem bildungsfernen Haushalt und einem niedrigen Berufsstand der Eltern verdüstert die Bildungschancen: "Der relevante Faktor ist nicht die ethnische Herkunft, sondern die soziale Herkunft", so Schrodt. Im Schulalltag sind diese beiden Sphären jedoch nicht so leicht zu trennen: 55 Prozent der Kinder mit türkischen Wurzeln haben etwa Eltern, die höchstens über einen Pflichtschulabschluss verfügen; bei Familien aus Ex-Jugoslawien sind es nur 17 Prozent. Zugleich liegen laut einer Studie des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung aus dem Jahr 2011 gerade bei türkischen Haushalten die Hoffnungen auf Matura oder Hochschulabschluss mit 67 Prozent weit über dem Erwartungswert. Aus Unkenntnis des Bildungssystems -oder fehlenden Ressourcen für die langjährige Unterstützung ihrer Kinder - zerschlägt sich aber diese Vision.

Die Gründe, warum Kinder aus Migrantenfamilien am Bildungssystem -und die Schulen an ihnen -scheitern, sind also komplex. Eines aber ist klar, so Schrodt: "Es wurde viel schöngeredet." Höchste Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Das beginnt im Kindergarten, wo die Erstsprachen dieser Kinder kaum gefördert werden -laut Spracherwerbsforschung eine Voraussetzung für den erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache Deutsch, so Schrodt. "Deutsch zugleich statt Deutsch zuerst", lautet folglich ihr Motto. Auch der Übergang zwischen diesen beiden Bildungseinrichtungen müsse besser organisiert werden -wie es überhaupt im österreichischen Bildungssystem ein Schnittstellenproblem gebe. Viele Schüler seien mangels transparenter, durchgehender Diagnostik "Lost in Transition".

An Transparenz mangelt es auch bei der Notengebung. "Notenwahrheit gibt es nicht. Meine Direktorin ist zu mir gekommen und hat gesagt: Es fällt keiner durch", zitiert Schrodt etwa eine Lehrerin einer Wiener NMS. Solche Einstellungen seien kein Einzelfall -vor allem dort, wo die Hauptschulen zu "Restschulen" geworden seien und die "Hilflosigkeit gegenüber dem versagenden System" ebenso zum Ausdruck komme wie die "Resignation seitens vieler Lehrerinnen und Lehrer", so Schrodt.

Bücherei-Ausflug im Kindergarten

Es gibt freilich auch jene Standorte, die trotz schwieriger Rahmenbedingungen -und unter Aufbietung eines übergroßen, Burnout-befördernden Engagements -vorbildhafte Arbeit leisten. Da ist etwa der Kindergarten in der Haberlgasse in Wien-Ottakring, wo die Kinder einmal wöchentlich einen Vormittag in der Hauptbücherei verbringen, um auch Bücher in ihren Familiensprachen auszuleihen; oder die Europaschule in Wien-Brigittenau, wo Elterncafés eine "Willkommenskultur" etablieren; oder der schwedische Bezirk Örebro, wo in einem besonders "schwierigen" Viertel Schul-und Sozialabteilung zusammengelegt wurden, um ein breiteres Maßnahmenpaket zu schnüren -möglich durch ein dezentralisiertes, hoch autonomes Schulsystem.

Und in Österreich? Heidi Schrodts Wunschliste ist lang: Kurzfristig fordert sie etwa ein Bundesrahmengesetz für Kindergärten, das Recht auf den Besuch ganztägiger Schulen, auch wenn nicht beide Eltern berufstätig sind, mehr Sprachförderlehrkräfte und ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr. Langfristig plädiert sie für die Umstellung auf Ganztagsschulen, das Ende der Trennung mit zehn Jahren und die Finanzierung der (autonomen) Schulen nach einem Sozialindex. Man werde "nicht umhin kommen, auch hierzulande Bildung von Grund auf neu zu denken", schreibt Heidi Schrodt. Hoffentlich finden die Zuständigen mitten in der aktuellen Regierungskrise auch die Zeit, ihre vielen Anregungen zu lesen.

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