Mit der falschen Brille ins Duell

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Spätestens seit Stefan Zweigs "Sternstunden der Menschheit" wissen wir, dass Kleinigkeiten den Lauf der Geschichte entscheiden können. Vielleicht trug auch eine Bagatelle zum Ausgang der Nationalratswahl 1986 bei. Die ÖVP schien nach dem Erfolg ihres Kandidaten Kurt Waldheim bei der Bundespräsidentenwahl im Aufwind, doch dann wechselten FPÖ (statt Steger kam Haider) und SPÖ (für Sinowatz kam Vranitzky) ihre Spitzenleute. Und mit der TV-Diskussion der Parteichefs Alois Mock (ÖVP) und Franz Vranitzky (SPÖ) wendete sich das Blatt vollends, schließlich wurde die SPÖ wieder die stärkste Partei. Wie unmittelbar betroffene Zeitzeugen dies erlebten, verrät das wie immer höchst informative jüngste Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts, "Demokratie und Geschichte 2001".

Der langjährige ÖVP-Wahlkampfleiter Heribert Steinbauer meinte: "Beim Ausrasten von Alois Mock in seiner Fernsehdiskussion weiß ich bis heute nicht genau, was die Ursache dafür war. War es das Vorankündigen seiner Krankheit in der Stresssituation oder waren es Medikamente, von denen er zu viele genommen hatte. Jedenfalls war es schrecklich, weil er auf einmal bleich und schwer wurde."

Mock selbst hat eine andere Erklärung: "Wir hatten vorher darüber diskutiert, welche Fragen kommen könnten. Wir waren dabei guten Mutes und sehr zuversichtlich. Dann mussten wir überstürzt aufbrechen, um pünktlich zu sein. Unmittelbar vor der Diskussion setzte ich die eingesteckte Brille auf und alles verschwamm vor meinen Augen. Der Grund dafür war, dass ich die Brille eines Mitarbeiters, der bei dem Vorbereitungsgespräch neben mir gesessen war und sie liegen gelassen hatte, versehentlich eingesteckt hatte. Ich war völlig verunsichert, weil ich mir nicht erklären konnte, warum ich plötzlich nichts sah."

Helmut Wohnout und Michael Gehler sehen umso klarer. Sie schauen nicht nur durch die Parteibrille (das Vogelsang-Institut ist bekanntlich in der Politischen Akademie der ÖVP angesiedelt), sondern sind um sachliche Information bemüht. Sie holen im Kernstück des neuen Jahrbuches, den ausführlichen Interviews - neben Mock und Steinbauer sind Fritz Molden und Heinrich Neisser die Gesprächspartner - , die großen Linien, aber auch bemerkenswerte Details der politischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte ans Licht. Ob Widerstand gegen das NS-Regime, Moskauer Deklaration, die Ära Kreisky, die Kampagne gegen Kurt Waldheim, Österreichs Rolle im modernen Europa - die Texte sind höchst lesenswert. Das gilt - neben den Interviews - noch in besonderem Maß für die Betrachtungen der Wissenschafter Wolfgang Mantl ("Die Ernsthaftigkeit der Geschichte") und Ernst Bruckmüller ("Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung, Zu einer Sozialgeschichte Österreichs"), für Georg Kastners Beitrag "Die Opfer des NS-Terrors in Österreich von 1933 bis 1938" und für die von mehreren Autoren gestaltete Auseinandersetzung mit dem Thema "Wiedergutmachung' und Restitution im Bereich der Parteien am Beispiel der ÖVP".

Demokratie und Geschichte

Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, Jahrgang 5/2001, Hg. von Helmut Wohnout, Böhlau Verlag, Wien 2002, 234 Seiten, e 27,80.

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