Mittendrin am Rand von allem

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Istanbul ist zu beschäftigt, um sich vom Status einer europäischen Kulturhauptstadt 2010 auffallend zu verabschieden. Die Megacity kämpft in 7/24 Stakkato gegen ihren Kollaps. 15 bis 20 Millionen Einwohner bilden das Soziallabor eines neuen eurasischen Selbstbewusstseins. Jedes Jahr kommen bis zu 500.000 Einwohner hinzu. Ein Lokalaugenschein.

Taxi fahren ist ein gutes Geschäft in Istanbul. "Aber nicht für den Fahrer“, grummelt Mehmet, "eine Lizenz kostet 250.000.“ Türkische Lira? "Euro, 300.000“, steigert zwei Tage später Aslan auf der Fahrt nach Taksim. Das ist nicht die Taxizentrale, sondern das Herz von Beyog˘lu, dem Zentrum des westlich geprägten Istanbul. 250.000 von offiziell 13, sicher 15, wahrscheinlich 20 Millionen Einwohnern leben hier, wo die linken Intellektuellen sich wohlfühlen, die Neureichen ihr Geld in Bars und Boutiquen verprassen, aber auch Orhan Pamuk immer wieder sein sollte. Denn der Literaturnobelpreisträger schreibt in den Erinnerungen an seine Heimatstadt: "Seit meiner Geburt bin ich den Wohnungen, den Straßen und den Vierteln, in denen ich gelebt habe, stets treu geblieben.“

Gerechtigkeit und Aufschwung

Deshalb fährt Fikret Özgül zu Silvester auch heim nach Ankara. Seit er 2005 den Vater von Yasemin gegen dessen Tiroler Mutter vertreten hat, ist er in Istanbul vom Solisten zum Hauptgesellschafter einer fünfköpfigen Anwaltskanzlei gewachsen.

Nicht nur im Taxi diktiert Tempo die Stadt: "Die AKP wird auch die nächste Wahl gewinnen. Denn die Menschen sehen, wie viel sich unter ihrer Regierung entwickelt hat“, sagt der Aufsteiger. Im deutschen Handelsblatt schreibt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdog˘an in einem Gastkommentar: "Als meine Partei 2002 die Regierung übernahm, lag die Gesamtwirtschaftsleistung der Türkei bei 250 Milliarden Dollar. Inzwischen beläuft sich das BIP auf 800 Milliarden.“

Gerechtigkeit und Aufschwung sind Namensgeber seiner Partei. Letzteres ist unverkennbar, wird ausgestellt in der Kulturhauptstadt. Dort der Welt größter überdachter Basar mit 4500 Verkaufsstellen auf 200.000 Quadratmetern, hier das Cevahir, Europas größte Shopping Mall mit 320 Läden auf 360.000 Quadratmetern. Das eine für die 2010 schon zehn Millionen Touristen, das andere für die neuen Eliten einer Stadt, der die Mittelschicht abhanden kommt.

Ein dichter Wald von Angelruten verdeckt auf der Galatabrücke den Blick auf orange Kuben zur Bewerbung der Kulturhauptstadt. Starbucks und McDonalds, Zara und Prada kontrastieren mit dem Cluster der Werkzeuggeschäfte und einer kilometerlangen Konkurrenz der Hochzeitsausstatter. Die knallrote Säule des Istanbul Modern markiert den Anspruch eines Museums für zeitgenössische Kunst, das direkt am Meer auch abseits der Ausstellungen fasziniert - mit einer atemberaubenden Perspektive des Goldenen Horns. Verlässt das weltbürgerliche Publikum die Art-Lounge, wetteifern die Minarette der nächsten Moschee mit der zeitgeistigen Modern-Stele. Mehr als 3000 gibt es in der Stadt. Der Ruf zum Gebet ist vielstimmig und unentrinnbar. Der Betriebsamkeit auf den Straßen gebietet er kaum Einhalt.

"Man muß viel laufen in Stambul. Da man, was man nicht mit dem Kleingeld von Schritten bezahlt hat, nicht gesehen hat, ist diese Stadt schwierig.“ Erich Kästners "byzantinische Aufzeichnungen“ gelten heute noch. Das permanente Sowohl-als-auch, das andauernde Zwischen-allen-Stühlen wird so nicht erfassbarer, aber doch erahnbarer. Allein der Kilometer Luftlinie zwischen Ada, dem Zwitter aus Café und Buchhandlung auf der Istiklal Caddesi, und dem Fischmarkt am Fuß der Galatabrücke umfasst Welten. Von der omnipräsenten globalisierten Weihnachtsdekoration, die im zu 99 Prozent muslimischen Istanbul nur Neujahrszierde sein darf, bis zu den Maronibratern mit Miesmuscheln im Alternativangebot. Im Großen Basar trägt sogar der Halbmond X-Mas-Girlanden. Atatürk lächelt vom Poster. Erman lacht hinter der Bar: "Deutsch?“ "Österreichisch!“ "Oh, ich habe gearbeitet in Salzburg.“ Wer nicht selbst dort war, hat einen Verwandten in Österreich, Deutschland oder der Schweiz.

Sie alle können nicht typisch sein für ein urbanes Monster, dessen Bevölkerung jährlich über vier Prozent wächst. Eine Megapolis auf vielen Hügeln, die sogar von ihrer höchsten Erhebung, dem Çamlica (262 m) im asiatischen Teil unüberschaubar ist. Und das auch bleibt, wenn dieser Berg bald von Sapphire und Diamond, zwei gigantischen Wolkenkratzern, überragt wird. Istanbul, dieser überzüchtete Nachfahr von Byzanz und Konstantinopel, gewährt dem Besucher nur Streiflichter über ein kolossales Soziallabor, dessen wahre Strahlkraft dem Gros der EU-Erweiterungsdiskutanten kaum bewusst ist. Am Schnittpunkt zwischen Ost und West, Nord und Süd, Christentum und Islam, Orient und Okzident, Tradition und Moderne, Gottesstaat und Säkularisierung wuchert zwischen Asien und Europa ein erstaunlicher Schmelztiegel der Parallelgesellschaften. Denn trotz aller, sich jeder Kontrolle entziehender Bedrohlichkeit: Irgendwie funktioniert es ja doch.

Busen, immer nur der Busen

"Die Deutschen sind viel zu konservativ“, erklärt Melike Külahçi, Gründerin und ärztliche Direktorin einer Spezialklinik für Plastische Chirurgie. "Busen, immer nur der Busen“, sei dort interessant. Dabei ließe sich doch in einem Institut wie dem ihren längst alles machen. Vor allem neue Haare. Die Spezialität des Hauses. Murat aus Linz zeigt stolz auf seine neue Pracht. 20.000 sind es bereits. Jetzt hat er seinen dritten Transplantationstermin. Anders als auf den Schildern in ihrer türkischen Klinik nennt sich die Chefärztin auf ihrer Homepage Külahçi-Päffgen. Deutschland ist Europas größter Markt.

"Die Türkei hat nicht nur dem Jahr 2010, sondern dem ganzen ersten Jahrzehnt des dritten Millenniums ihren Stempel als eines der einflussreichsten Länder aufgedrückt“, schreibt Recep Tayyip Erdo an für das deutsche Handelsblatt: "Die Realitäten des 21. Jahrhunderts erfordern eine multidimensionale, integrative politische Sicht.“ Istanbul lässt keine andere Perspektive zu.

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