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Naturrecht und europäische Rechtsgemeinschaft

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Die Ausführungen des angesehenen Gelehrten zu dem gewichtigen Thema erfolgen aus der besonderen deutschen Schau, die in äußeren Tatsachen wesentlich andere Voraussetzungen bat, als sie in Österreich und bei den übrigen Nachbarn gegeben sind. Mit um so größerer Aufmerksamkeit und Wertschätzung werden diese Darlegungen gelesen werden.

„Die Furche”

Wir leben in einer erneuten Renaissance des Naturrechts. Im öffentlichen Recht legitimieren unter anderem alle neuen deutschen Länderverfassungen ihren Grundrechtskatalog — wenngleich vorerst zum Teil nur auf dem Papier — durch naturrechtliche Argumente, die auf die nord- amerikanischen Verfassungswerke und die französische declaration des droits de l’hoqime et du citoyen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückführen, während freilich in der Verwaltungsrechtspraxis immer noch der Geist eines bürokratischen Positivismus vorherrscht und die Methode der — an sich durchaus berechtigten und notwendigen — sogenannten Entnazifizierungsverfahren, die ein führender Politiker unserer Tage, wohl etwas übertrieben, den größten Schimpf der letzten deutschen Geschichte genannt hat, von dem Hauche des Naturrechts, das heißt besonnener Vernunft und maßvoller Gerechtigkeit, wenig verspürt zu haben scheint. Im Strafrecht wird zum Beispiel das neue Delikt de Verbrechens gegen die Menschlichkeit ausdrücklich auf die Verletzung der unveräußerlichen Rechte der Humanität, Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit gestützt und ist die Aufhebung einer Reihe nationalsozialistischer Strafgesetze und einzelner Strafrechtsnormen mit der Begründung erfolgt, daß sie gegen die ewigen Gebote der Kultur- und Sittenordnung verstoßen. Auch das Privatrecht ist heute wieder von der Überzeugung beherrscht, daß das „Recht” sich nicht in den positiven Gesetzgebungsakten der öffentlichen Gewalt erschöpft, sondern daß es daneben und darüber Normen mafarositivistischen Ursprungs gibt, die nicht nur die Lücken des gesetzten. Rechts auszufüllen, sondern auch schlechte und unwürdige Gesetze zu verdrängen berufen sind.

Soweit diese Rückbesinnung auf die sittlichen Grundlagen jeder Rechtsordnung in der Form kassatorischer oder reformierender Gesetze erfolgt, kleidet sie sich wiederum in das Gewand des positiven Rechts, auch wenn sie ihren Geltungsanspruch aus natur- rechtlichen Postulaten ableitet. Daneben aber vindiziert heute jeder deutsche Richter für sich das — bis vor kurzem noch als sacri- legium verpönte — Recht und empfindet es als heilige Pflicht, auch nicht formell aufgehobene Rechtsschöpfungen der nationalsozialistischen Zwischenzeit auf ihre Konformität mit den „guten Sitten” zu prüfen und sie bei negativem Ergebnis für kraftlos zu erklären.

Diese neue Welle des Naturrechts — wenngleich ihre Anfänge schon mehr als ein Menschenalter zurückliegen — scheint sogar in der deutschen Gegenwart gerade im Privatrecht so bedenkliche Dimensionen anzunehmen, daß sie die festen Wälle des positiven Rechts zu überfluten und damit die Rechtssicherheit, das heißt aber das Vertrauen des Volkes in die Gleichmäßigkeit und Kontinuität der Rechtsprechung, zu unterhöhlen droht. Schon werden warnende Stimmen laut, die besorgt fragen, ob die naturrechtliche Kritik nicht Gefahr laufe, das Gespenst des „gesunden Volksempfindens”, mit verwandelter Maske, aus dem verdienten Grabe wieder heraufzubeschwören und damit der Rechtsunsicherheit und Rechtswillkür, die zwölf Jahre lang di deutsche Justiz zu zersetzen gedroht haben, erneut Vorschub zu leisten, heute um so bedrohlicher, als das Sicherheitsventil eines höchsten deutschen Gerichtshofs uns — wie lange noch? — fehlt. Wer in den verschiedenen juristischen Zeitschriften die Übersichten über die Reehtsentwicklung und die Judikatur in den einzelnen Zonen und Ländern liest, erkennt mit Schrecken, wie nahe wir nicht nur auf dem Gebiete der öffentlichen Verwaltung, sondern auch auf dem des Privatrechts und Zivilprozesses der Gefahr partikularistis c h e r Rechtszersplitterung stehen. Die Einheit des Privat-, Straf- und Verfahrensrechts war so ziemlich das einzige, was wir aus dem beispiellosen nationalen Zusammenbruch gerettet haben. Soll auch diese verlorengehen? Es wäre eine tragische Verkettung von Widersprüchen, wenn die Renaissance des Naturrechts, dessen Sinn und Aufgabe doch gerade das entgegengesetzte Ziel internationaler und übernationaler Vereinheitlichung und Gemeinschaft der Grundpfeiler der Rechtsordnung ist, an diesem innernationalen Zersetzungsprozeß des deutschen Rechts eine Mitschuld träfe.

In dieser ebenso hoffnungs- wie gefahrenträchtigen Situation des deutschen Rechtswesens ist es verdienstvoll und begrüßenswert, wenn deutsche Rechtslehrer zu der Problematik des Ringens um eine neue „R e c h t s i d e e” das Wort ergreifen . Für uns Privatrechtler ist es dabei von besonderem Wert, daß diesen Veröffentlichungen ein doppelter Nachweis gelungen ist: einmal, daß das Naturrecht nicht nur die Entwicklung des öffentlichen, sondern auch die des bürgerlichen Rechts in stärkstem Maße beeinflußt hat, um so mehr, als die Naturrechtler seit Gro- tius auch die publizistischen Rechtsfiguren vorwiegend unter dem Bilde privatrechtlicher Vorgänge, Vertragsschlüsse, Vertragsauslegung und Vertragserfüllung, sahen; und zweitens, daß diese Entwicklung, bei aller Vielgestaltigkeit nationaler Färbung, doch nicht an die Grenzen der sich staatsrechtlich immer mehr abschließenden europäischen Einzelvölker gebunden, sondern eine gesamteuropäische war. Füglich kann man für das Naturrecht das Verdienst in Anspruch nehmen, auch für die Neuzeit von einer universellen euro- päischen Privatrechtsgeschichte sprechen zu dürfen: eine Erkenntnis, die uns Gegenwartsmenschen die Hoffnung gibt, bei dem Naturrecht wieder anknüpfen zu können, wenn man die heute noch bestehende Isolierung der nationalen Privatrechte überwinden will.

Ob freilich’ die Verteilung dieses geschichtlichen Verdienstes auf die Rechtswissenschaft der einzelnen Völker bei Thieme überall mit richtigem Maßstabe ertolgit ist, möchte ich bezweifeln. Ist der Anteil der deutschen Wissenschaft wirklich so wenig originell und wesentlich rezeptiv gewesen, wie er es darstellt? Einmal: beginnt der „eigentliche” naturrechtliche Geist sich wirklich erst mit dem Einbruch der neuen westeuropäischen Denkmethode in das Luthertum an der Universität Jena wirksam zu regen? Sind die deutschen Vorläufer des Grotius, vor allem Oldendorp und noch mehr Johannes Althusius, wirklich noch nicht über eine allgemeine naturrechtlich Rechtslehre hinausgekommen? Zum zweiten: Ist es wirklich richtig, daß nicht nur ihnen, sondern auch noch Pufendorf jeder praktisch-reformerische Elan, jedes Achtspolitische Wollen, jede materiale Vorstellung sittlich-fundierter Rechcspflicht fehlt? Ist denn wirklich alles das unrichtig, was Otto v. Gierte in seinem „Johannes Althusius” in so überraschender Weise anf- gedeckt hat? Geben diese Männer uns nicht das Recht, „dem deutschen Geist einen ebenbürtigen Anteil an der modern-europäischen Entwicklung der politischen Ideen zu vindizieren”, wie Gierke am Schlüsse seines Vorwortes zur ersten Auflage des „Althusius” mit Stolz sagen zu können glaubte?

Ebensowenig kann ich der heute weitverbreiteten Auffassung folgen, daß — nachdem sicherlich schon die antirationalistische Einstellung der Romantik und der historischen Rechtsschule mit ihrem national gebundenen Volksgeis tmythos, die von Deutschland auch auf Frankreich, England und die Schweiz Übergriff, das natur- rechtliche Denken abgedrosselt und dem Positivismus den Weg bereitet hatte — der Todesstoß gegen das Naturrecht von der Hegelschen Philosophie geführt worden sei. Es gehört zwar heute nachgerade zum guten Ton, Hegel als den geistigen Vater eines Machtstaatspositivismus zu diffamieren und ihn als Initiator und Vorläufer der nationalsozialistischen Machtrauschideologie zu behandeln. Zu einem Teil ist dieses groteske Mißverständnis wohl darauf zu- rückzuführen, daß gewisse dem Nationalsozialismus ergebene deutsche Rechtslehrer sich unterfangen haben, Hegel tatsächlich als ihren Stammvater in Anspruch zu nehmen — was übrigens bekanntlich auch nicht nur der deutsche, sondern auch der russische Kommunismus getan hat — und seine durchaus sittlich fundierte, wenn auch von dem alten Hegel sicherlich outrierte Kulturmacht-Staatsidee in eine platte Apotheose des omnipotenten, totalitären Gewaltstaats umzufälschen. Weit richtiger ist es, das Erlöschen des Sterns des Naturrechts der allgemeinen mate- ri ali stis c h-naturalistischen Geistesverfassung zuzuschreiben, die unter der Führung von Männern wie Darwin, Comte, Spencer, Mill, Haeckel und vielen anderen allmählich die Kulturwelt des 19. Jahrhunderts ergriff und in der Jurisprudenz zu jenem seichten Gesetzespositivismus führte, wie wir ihn unter anderem bei Bergbohm finden und wie er bis in das 20. Jahrhundert hinein die kläglich verarmte Rechtswissenschaft beherrscht hat, um schließlich — trotz dem Wiedererwachen des Naturrechts seit Stammler, Saleilles und anderen und insbesondere dank der Strömung des Neuthomismus — in dem verzerrten, isoliert-nationalistischen „Naturrecht” der „konkreten Ordnungen” aus ,3Iut und Boden” von Carl Schmitt und seiner Schule den hoffentlich letzten höchsten Triumph zu feiern.

Daß nach Überwindung dieses tiefsten Fall des Naturrechts, der freilich, wie wir alle leidvoll wissen, in den sogenannten Volksdemokratien Osteuropas sich heute in noch dunklerer Schattierung fortsetzt, in der Gegenwart sich die Zeichen des Neuerwachens eines in seinen Grundlagen wieder universalen und absoluten abendländischen Naturrechts mehren, bedeutet sicherlich einen Appell an alle Menschen guten Willens, bei der Geburt dieses einstweilen noch embryonalen Geschöpfes nach ihren Kräften Dienste zu leisten, im Geiste derVölkerverständigung und -Vereinigung mit dem ersehnten Fernziel eine „Paneuropa”. Auch oder vielmehr gerade auf dem bescheidenen Raume des privatrechtlichen Lebensausschnittes können wir wirksam dazu beitragen. Denn ohne eine grundsätzliche Übereinstimmung über die großen Postulate unserer Kultur- und Sictenordnung ist ein Wiederaufbau des zerstörten Abendlandes nicht möglich. Uns Deutschen aber obliegt vor allen anderen Völkern die heilige Pflicht, unser Bestes zu tun, um die unheilvolle Kluft, die die letzten 15 Jahre zwischen der Außenwelt und uns aufgerissen haben, wieder zu überbrücken. Dazu ist eines vonnöten, ohne da alles ehrliche Wollen zum Scheitern verurteilt ist: die Siegermächte müssen nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten beweisen, daß sie bereit sind, uns das köstliche Geschenk, wenn schon noch nicht der staatlichpolitischen, so doch der geistigen Freiheit wieder uneingeschränkt zuteil werden zu lassen. Daß wir von der restlosen Verwirklichung dieses Wunschbildes zur Zeit auch in Westdeutschland, von Ostdeutschland ganz zu schweigen, zum Teil noch entfernt sind, wird auch der gläubigste Optimist nicht bestreiten können. Quod dii bene vertam!

1 So besonder Prof. Dr. Hans Thieme. Göttingen „Naturrecht und europäische Privat- rechtsgesdiichte”, Basel 1947, und Prof. Dr. Helmut C o i n g-Frankfurt „Die obersten Sätze des Recht , ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts”, Heidelberg 1947.

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