Nicht für die Schule, für's Essen lernt man

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Weil die Schüler ein warmes Mittagessen bekommen, besuchen "fast alle, fast immer" den Unterricht im bulgarischen Banya.

Acht Kohleöfen und drei Frauen - und der Schulunterricht im bulgarischen Banya kann beginnen. "Um sechs Uhr in der Früh fangen wir an", sagt Dora Nikolaeva und zeigt auf ihre zwei Kolleginnen Vanya Dichkova und Boika Ivanova. Acht Klassen hat die Schule, achtmal müssen sie jeden Morgen Kohle in die Öfen füllen, achtmal anheizen, achtmal das Feuer schüren - um 7.30 Uhr ist Unterrichtsbeginn, dann soll es warm sein. Im Winter kommen deutlich mehr Kinder in die Schule als in der warmen Jahreszeit, sagt Schuldirektor Doitscho Doitschev: "Weil eingeheizt ist." 306 Schülerinnen und Schüler zählt er, wenn alle da sind - und seit die Caritas Österreich eine Schulküche finanziert und ein Mittagessen für die Kinder ermöglicht, kommen laut Direktor "fast immer, fast alle". Seit vier Jahren arbeitet Doitschev in Banya. Schweren Herzens und nicht ohne Druck der regionalen Schulbehörde hat er an diese Schule mit ihrem fast 100-prozentigen Roma-Anteil gewechselt: "Es ist schwer mit den Zigeunern zu arbeiten", seufzt er, "sie sind nicht so fleißig wie die Bulgaren, am liebsten würden sie den ganzen Tag nur spielen und singen."

"Mein Wald du bist so schön, nie werde ich dich vergessen", übersetzt Deutsch-Professorin Lena Lapkova den Refrain des Liedes, das eine Schulklasse mit viel Begeisterung vorträgt. Lapkova unterrichtet an einem Gymnasium in der nahe gelegenen Stadt Stara Zagora. "Bei uns in der Schule gibt es nur ganz wenige Roma-Kinder", sagt sie, "obwohl es die Schulbehörde gerne sieht, wenn wir mehr Roma in die Oberstufe bringen." Doch die Bulgaren werden weniger und die Roma immer mehr, nennt sie einen Grund, "warum wir Bulgaren schon ein wenig Angst haben" und fügt dann noch hinzu: "Sie sollen nicht so frech sein und sich alles herausnehmen wollen" - die Roma.

Gratulation mit Vorbehalt

So wie Rumänien, die Slowakei, Tschechien, fast alle osteuropäischen Reform-Staaten hat auch Bulgarien ein Roma-Problem. Knapp 400.000 der acht Millionen bulgarischen Staatsbürger sind Roma, der Großteil von ihnen hat keine oder zuwenig Schulbildung, der Großteil von ihnen ist arbeitslos, der Großteil von ihnen lebt unter dem Existenzminimum. "Wenn es heute noch so ist, dass in Bulgarien von 100 Roma-Kindern nur fünf den Abschluss einer Sekundarschule erreichen, dann weiß man, was hier sozial los ist", sagt Harald Ettl, Abgeordneter im Europaparlament und Mitglied im parlamentarischen Ausschuss eu-Bulgarien.

Man könne Bulgarien zu den Fortschritten, die es seit Beginn der Beitrittsverhandlungen gemacht hat, "eigentlich nur gratulieren", meint Ettl. "Würde man ein Rating entwickeln - miteingeschlossen die zehn bereits beigetreten Mitgliedsländer und die, die noch zu Debatte stehen - würde Bulgarien sich punkto Geschwindigkeit und Bemühungen sicher im ersten Drittel befinden." Trotz dieser positiven Entwicklung sieht Ettl Bulgarien aber noch mit großen Problemen in den Bereichen Soziales und Gesundheit konfrontiert: "Da ist noch sehr, sehr viel zu tun. Und auch bei der Gleichbehandlung von Minderheiten gibt es großen Nachholbedarf, vor allem im Sozialbereich sind hier Entwicklungsprogramme vernachlässigt worden."

"Düster vor drei Jahren"

"Vor gut drei Jahren war es in Bulgarien noch wirklich düster", stimmt Nikolay Angelov den skeptischen Aussagen des österreichischen eu-Abgeordneten zu. Aber mit dem 2001 verabschiedeten Gesetz für soziale Unterstützung habe die Regierung eine radikale Wende eingeleitet, sagt der Direktor des Büros für Soziale Unterstützung im Sozialministerium. "Wir haben von passiver auf aktive soziale Unterstützung umgestellt", nennt Angelov das "Wesen" der bulgarischen Sozialreform. Standen früher Schlangen von Sozialhilfebeziehern vor den Gemeindeämtern, um sich ihre Sozialhilfe abzuholen, würden die Gemeinden heute Arbeitsstellen anbieten und Löhne auszahlen. Von den 200.000 Langzeitarbeitslosen konnte sich seitdem die Hälfte bereits wieder in den Arbeitsprozess integrieren, schwelgt Herr Direktor in Erfolgsmeldungen. Und auch für die zweiten 100.000 habe man bereits Arbeit gefunden: vorwiegend in der Straßenreinigung und Parkpflege.

Zufrieden lehnt sich Angelov nach diesen Ausführungen in seinen ledernen Schreibtischsessel zurück. Ober ihm an der Wand das bulgarische Staatswappen, neben ihm die bulgarische und die Europa-Fahne - alles korrekt, alles an seinem Platz. "Und wenn sich jemand weigert, die Arbeit anzunehmen", setzt Angelov nach, "gibt es keine Sozialhilfe mehr - aber nur für die jeweilige Person, nicht für die ganze Familie."

Kluge Töchter ins Ausland

Ein ungelöstes Problem, räumt Angelov ein, sei aber immer noch die fehlende Qualifikation breiter Bevölkerungsschichten. Die gut Ausgebildeten wandern aus - der Direktor im Sozialministerium weiß, wovon er spricht: Seine Tochter arbeitet als Zahnärztin in den usa. Die Tochter des Direktors in der Schule von Banya wiederum arbeitet als Computer-Spezialistin in London. Der 13-jährige Feim würde in Banya bleiben, beteuert er, auch wenn er sich seinen Berufsswunsch erfüllt und Arzt wird. Sein Freund, der gleichaltrige Sabri, schüttelt sich vor Lachen: "Du bist viel zu schlecht in der Schule, um jemals Doktor zu werden", spottet er. Feim solle doch lieber mit ihm zur Polizei gehen, schlägt Sabri vor - "da braucht man nicht soviel lernen, da muss man nur gut prügeln und schießen können".

Korruption und Mafia blühen

Derzeit ist die Bekämpfung der grassierenden Korruption die größte Herausforderung für die bulgarischen Polizei- und Justizbehörden. An der Passkontrolle am Flughafen weisen große Schilder darauf hin, dass Einreisende "hier nichts zu bezahlen haben". Laut Studie der Organisation "Transparency International", die das Ausmaß der Korruption in den einzelnen Ländern an Hand einer zehnstufigen Skala bewertet, liegt Bulgarien mit 4,1 Punkten abgeschlagen an 54. Stelle, gemeinsam mit Mauritius und Namibia - nicht unbedingt die beste Gesellschaft für ein künftiges eu-Land.

Auch für Wenceslas de Lobkowicz, Referatsleiter der Generaldirektion "Erweiterungsfragen" in der Europäischen Kommission, hat Bulgarien zwar die von der Union geforderten Kriterien: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Marktwirtschaft und die Übernahme des eu-Rechts erfüllt. Vor allem bei der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität müssten aber bis zum avisierten Beitritt im Jahre 2007 noch große Fortschritte gemacht werden.

Umfragetief für Ex-König

Ein Wirtschaftswachstum von rund fünf Prozent sichert Bulgarien in dieser Kategorie einen Spitzenplatz in Europa. Auch die Arbeitslosenquote ist innerhalb der letzten drei Jahren von 19,3 auf 12,6 Prozent gesunken. Viele Bulgaren finden dennoch "schwer Arbeit", und viele Pensionisten haben Schwierigkeiten, für Medikamente oder Heizkosten aufzukommen, räumt sogar der bulgarische Ministerpräsident Simeon Sakskoburggotski ein. Offiziell sollen gut eine Million Bulgaren unter der Armutsgrenze leben, inoffizielle Quellen rechnen aber mit der doppelten Zahl an Armen. Der frühere bulgarische König Simeon II. aus dem deutschen Fürstenhaus Sachsen-Coburg und Gotha war aus dem spanischen Exil in die Heimat zurückgekehrt und hat bei der Parlamentswahl 2001 mit 42,74 Prozent der Stimmen die Hälfte aller Parlamentssitze errungen. Derzeit grundelt Sakskoburggotskis Partei in den Meinungsumfragen bei knapp zehn Prozent der Stimmen herum, und er muss um seine Wiederwahl Mitte dieses Jahres fürchten.

Roma, der kein Romani kann

Fest im Sattel sitzt hingegen Dimitar Ivanov, der Bürgermeister von Banya. Seit fünf Jahren leitet der Rom die Geschicke der Gemeinde. Doch seine Herkunft hat Ivanov schon fast abgelegt, seine Sprachkenntnisse in Romani beschränken sich darauf, "zigeunerisch bis zehn zählen zu können". In einem kleinen Häuschen am Ufer eines Seitenarmes der TundzÇa lebt der Bürgermeister - allein, Frau und Kinder wohnen lieber in der Stadt, besuchen ihn nur am Wochenende. So wie die anderen Bulgaren aus Banya, die ihre Heimat nur noch als Feriendomizil nützen. Von Montag an sind die Roma wieder unter sich - und nur der Bürgermeister und der Schuldirektor halten die Stellung.

In Ivanovs Kindheitstagen sei das anders gewesen, erinnert er sich: Damals lebten Bulgaren und Roma zusammen. "Wir haben gemeinsam Fußball gespielt, wir haben alles gemeinsam gemacht." Heute fehle dieser Kontakt, klagt Ivanov, die Roma "schmoren nur im eigenen Saft, es fehlt ihnen an Motivation". Das Schulküchenprojekt der Caritas lobt der Bürgermeister in höchsten Tönen: "Seit es ein Essen gibt, kommt ein Drittel mehr Kinder zum Unterricht" - und Doitscho Doitschev, der zwangsversetzte Schuldirektor, nickt und sagt zum Bürgermeister: "Wir können sie nicht im Stich lassen, es sind ja doch auch irgendwie unsere Kinder."

Die Schulküche in Banja und weitere Hilfsprojekte in Bulgarien werden von der Caritas-Osteuropa-Kampagne finanziert. Spenden erbeten unter:

PSK 7700004, BLZ 60000

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