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Nonkonformismus in Helvetien

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Das eidgenössische Parlament hat eine der aufregendsten Sessionen der letzten Jahre hinter sich. Das liegt weniger an den teilweise sehr gewichtigen Sachgeschäften, die ihm zum Entscheid vorgelegt wurden, und die unter anderen Umständen wohl Viel mehr rote Köpfe und temperamentvolle Voten verursacht hätten, als es für dermalen der Fall gewesen ist. Den Grund der Spannung bildet vielmehr die Bundesratersatzwahl, die am Donherstag der zweiten Sessionswoche vorzunehmen war. Um diese Spannung, die für die schweizerische Demokratie typisch war, zu verstehen, muß man nicht nur die besonderen Umstände der Wahl vom 27. September kennen, sondern auch die Bedeutung des Bundesrates und der Bundesratwahlen im schweizerischen Staatsleben. Wer das Phänomen Schweiz verstehen will, muß wissen, was es für die Eidgenossen zu bedeuten hat, wenn in Bern ein, Bundesrat gewählt wird.

Die schweizerische Eidgenossenschaft kennt weder einen Staatspräsidenten noch einen Ministerrat, noch Kabinettskrisen. Die Regierungsgewalt wird von einem siebenköpfigen Bundesrat ausgeübt. Jeder der sieben Herren verwaltet ein Ministerium („Departement“). Alle Vorschläge und Anträge gehen jedoch vom Gesamtbundesrat als Kollegialbehörde aus; sie sind nicht vom betreffenden Departementvorsteher gezeichnet, sondern vom Bundespräsidenten. Dieser hat aber nicht die Stellung eines Staatsoberhauptes; er ist kaum mehr als der Primus inter pares, und er kann sich seiner hohen Würde nur ein Jahr lang erfreuen. In dem durch Anciennität bestimmten Turnus kommen alle sieben, Landesväter der Reihe nach zum höchsten Amt, dessen wichtigste Funktion neben repräsentativen Verpflichtungen der Vorsitz der wöchentlich zweimal stattfindenden Bundesratsitzung ist.

Um die Nachfolge eines Konservativen

Am 1. Jänner 1963 wäre für die nächsten zwölf Monate der konservative Dr. Botirgknecht im Bundesrat zu Präsidialehren gekommen. Bourgknecht galt gewissermaßen als Garant eines bürgerlichen Kurses der Regierungspolitik — eine Schlüsselposition, welcher infolge des 1959 erfolgten Eintritts der Sozialdemokratie in die Landesregierung besondere Bedeutung zukommt. Bis dahin waren die Freisinnigen (Radikalen) und die Katholisch-Konservativen mit je drei Mann und die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei mit einem Mann im Bundesrat vertreten. Gegen heftigen freisinnigen Widerstand setzten Konservative und Sozialdemokraten 1959 nach einem mathematischen Schema die Formel 2:2:1 durch, wodurch sich die Landesregierung aus je zwei Freisinnigen, Konservativen und Sozialdemokraten und einem BGB-Vertreter zusammensetzt. Das Unglück wollte es nun, daß Bourgknecht, der „Flügelmann rechts“, nach nicht dreijähriger Amtstätigkeit krankheitshalber aus dem Siebener-kollegium ausscheiden mußte. So hatte die Vereinigte Bundesversammlung im Verlaufe der Herbstsession einen Nachfolger Bourgknechts für den Rest der Amtsdauer zu wählen. Dieser hat sich dann wie seine sechs Kollegen in einer Gesamterneuerungswahl im Dezember 1963 erneut dem Urteil der Parlamentarier zu stellen. Der Bundesrat wird nämlich jeweils im Anschluß an die Nationalratswahlen wie dieser für eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt, iedoch nicht wie jener in iner Volkswahl, sondern vom Parlament. Vertrauensvoten, denen er sich von Zeit zu Zeit zu unterziehen hätte, gibt es nicht, und daher auch keine Kabinettskrisen. Noch nie ist es vorgekommen, daß der Bundesrat als Gesamtbehörde demissioniert hätte. Er ist ein Spiegelbild der politischen Stabilität der Eidgenossenschaft.

Trotzdem — oder gerade deswegen? — begegnen Buifdesratwahlen einem besonders erfreulichem und außergewöhnlich lehbhaften Interesse in allen Kreisen des Schweizer Volkes. Sie sind gewissermaßen der Ersatz für die Aufregungen und Spannungen, die andernorts durch Ministerkrisen und Konsultationen zur Neubildung der Regierung hervorgerufen werden. Besonders lebhaft war dieses Interesse 1959, als im Zeichen der umstrittenen „Zauberformel“ gleich vier neue Bundesräte zu wählen waren, weil zu zwei altershalber vorgesehenen Rücktritten die durch Krankheit verursachten Demissionen zweier weiterer Bundesräte hinzukamen. Damit war der Wahlbehörde die Ellenbogenfreiheit geboten, die nötig war, um den Einzug von zwei Vertretern der bisherigen Opposition zu bewerkstelligen und zugleich eine ausgewogene Verteilung der Sitze auf die einzelnen Landesgegenden zu gewährleisten. Eine Bundesratwahl ist nämlich der gesamten Eidgenossenschaft fast immer eine besonders komplizierte Rechenaufgabe.

daß sie nur einen italienisch sprechenden Bündner, einen Tessiner, einen Welsch-Walliser oder einen Genfer ihrer Farbe zur Wahl empfehlen konnte (im französischen Kanton Neuenburg ist diese Partei überhaupt nicht organisiert). Die Nominierung

ihres Kandidaten wurde noch dadurch erschwert, daß die Sozialdemokraten, welche politische Morgenluft witterten, für einen Anwärter aus den Reihen des sonst von ihnen aus Konkurrenzgründen gerne totgeschwiegenen christlichsozialen Parteiflügels eintraten, wogegen liberale und freisinnige Kreise die Aufstellung einer bürgerlich orientierten konservativen Kandidatur begünstigten, um einem eventuellen Kurswechsel der Bundesrratpolitik nach halblinks einen Riegel vorzuschieben.

Ausmarchung zwischen Außenseitern

Die vorschlagberechtigte konservaErsatz für Ministerkrisen

Sie kann nur einigermaßen befriedigend gelöst werden, wenn es gelingt, eine ganze Anzahl von Vorschriften, Spielregeln und widerstreitenden Interessen auf einen Generalnenner zu bringen. Dieser Generalnenner sollte nicht nur die geeignetste der zur Verfügung stehenden Persönlichkeit sein, sondern der „rechte Mann“ sollte zugleich der „rechten“ Partei und deren „richtigem“ Flügel angehören, er sollte aus der „richtigen“ Gegend stammen und im Hinblick auf die Übernahme eines bestimmten Ministeriums dafür einige Fachkenntnisse mitbringen. Welches Ressort der „Neue“ zu übernehmen hat, weiß man allerdings nicht immer im vorneherein, denn in der ersten Sitzung des Bundesrates in seiner neuen Zusammensetzung können die bisherigen in der Reihenfolge ihres Amtsalters auswählen, ob sie ihr Departement behalten wollen oder ein neues

zu übernehmen wünschen. Der Neue muß dann nehmen, was übrigbleibt. Im gegenwärtigen Fall stand schon vor der Wahl fest, daß der Nachfolger Bourgknechts wie dieser dem Finanzdepartement vorzustehen haben wird, da keiner der bisherigen auf dieses Dikasterium reflektierte. Er mußte zudem konservativer oder christlichsozialer Richtung und französischer Zunge sein wie sein Vorgänger.

Die konservativ-christlich-soziale Partei, welche das Vorschlagrecht hatte, ist in der deutschen Schweiz viel stärker verankert als in der mehrheitlich protestantischen französischsprechenden Schweiz. Trotzdem verlangten staatspolitische Klugheit und Rücksichtnahme auf die kulturellen Minderheiten die Beibehaltung der Zweiervertretung der romanischen Eidgenossenschaft.

Praktisch bedeutete dies für die konservativ-christlich-soziale Fraktion, tiv-christlich-soziale Fraktion hatte keine leichte Wahl. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie entkleide selber die von ihr seinerzeit erzwungene neue Regierungsformel ihres Sinnes, wollte die Fraktionsleitung eine „Apertura a sinistra“ vermeiden und einen rechtsbürgerlichen Tessiner Konservativen, der gute Voraussetzungen zum Finanzminister mitbrächte, vorschlagen. Sie tat zuviel des Guten im Bestreben, die Fraktion auf diese Nomination festzulegen und wurde zu ihrer eigenen Überraschung desavouiert. Die Mehrheit der konservativen und christlich-sozialen Parlamentarier sprach sich für den dem christlich-sozialen Flügel angehörenden, aber einer Politik der Mitte verschriebenen Präsidenten der Partei, den Bündner Nationalrat italienischer Zunge, Doktor T e n c h i o, aus. Ein dritter Kandidat der eigenwillige Walliser Christlich-soziale Roger B o n v i n, blieb hinter seinen beiden Rivalen weit zurück, und ein vierter Mann, der konservative Freiburger Regierungsmann und Ständerat T o r c h e, verzichtete auf eine Kandidatur.

Die mit größter Spannung verfolgte Wahl selber, für die nicht weniger als fünf Urnengänge erforderlich waren, entschied sich schließlich zwischen diesen beiden. Nach dem vierten Gang gab Torche eine Erklärung zugunsten seines Rivalen ab, der denn auch im letzten Gang mit 142 von 234 abgegebenen Stimmen, zur großen Freude der ganzen französischsprachigen \\est-schweiz, obenaus schwang. Bonvin verdankte seine Wahl der zähen Solidarität der Welschen, die, vom ersten Gang an, geschlossen für ihn stimmten — auch die meisten Bürgerlichen unter ihnen, die in Torche ebenfalls einen echten Welschen zur Verfügung gehabt hätten, und erst noch einen rechtsstehenden. (Tenchio, obwohl italienischer Zunge, wurde als Angehöriger eines mehrheitlich deutschsprechenden Kantons von den Westschweizern nicht als Vertreter der Romandie anerkannt.) Mit Bonvin kommt nun ein neues Element in den Bundesrat.

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