Nur ein Theater ohne Publikum?

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Mangelndes Interesse der Öffentlichkeit schmälert die Bedeutung der Grundrechtscharta nicht. Sehr vielen, sehr wichtigen Texten ist es bislang nicht anders ergangen.

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Mangelndes Interesse der Öffentlichkeit schmälert die Bedeutung der Grundrechtscharta nicht. Sehr vielen, sehr wichtigen Texten ist es bislang nicht anders ergangen.

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Die Diskussion um die europäische Grundrechtscharta ist in vollem Gange: Führt sie zu allzuviel Staats-Europa, wird daraus zu wenig Sozial-Europa, mindert sie die Errungenschaften des Arbeitsrechts, schluckt sie die Unabhängigkeit Großbritanniens? Viel Fachdebatte, wenig Bürgerinteresse. Die Debatte wird öffentlich nicht sehr aufmerksam verfolgt. So etwas ist nicht neu.

Nicht alle wichtigen Texte werden von denen, für die sie geschrieben wurden, auch wirklich gelesen. Da-runter leiden die Schriftsteller, und das wissen die Historiker der Rechtsgeschichte. Aber mangelndes Wissen macht die Texte, die von Regierungen im Namen ihrer Bürger ausgearbeitet und gemeinsam beschlossen werden, nicht weniger wichtig.

Ein dafür sehr dramatisches Beispiel: Nach 1945 wurden die Vereinten Nationen mit einer Charta gegründet. Aus den grausamsten Erfahrungen durch Krieg und totalitäre Verbrechen sollte diese Charta hinführen zur Weltgemeinschaft.

Schon 1948 wenige Jahre nach der Befreiung der wenigen Auschwitz-Überlebenden wurde der kollektive Massenmord an religiösen, an ethnischen, an kulturellen Gruppen von Bürgern geächtet durch die Konvention gegen Völkermord. Erst die Völkermordhandlungen in den postjugoslawischen Kriegen der neunziger Jahre erinnerten die Europäer an die präzise Formulierung dieses Textes, der aus furchtbarer Erfahrung vor einem halben Jahrhundert, bereits drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert worden war.

Nun waren viele empört über die - wie sie fanden - völlig falsche Anschuldigung: "Völkermord". Dabei beschloss man schon 1948 sehr präzise, was darunter zu verstehen sei. Völkermord begeht, "wer Menschen misshandelt oder tötet" "in der Absicht, eine nationale, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als ganze oder teilweise zu zerstören. Heute liegt dieser Text den Gerichtsverhandlungen in Den Haag zugrunde.

So sind die Vereinten Nationen das wichtigste Kind des grausamen Krieges mit dem Vermächtnis, Kriege und Menschheitsverbrechen künftig zu verhindern. Und Europa hatte zwei bedeutende, aber sehr unterschiedliche Kinder aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geboren. Sie haben das Bild Europas als moderne Wertegemeinschaft geprägt: der Europarat und die Europäische Union.

Wertegemeinschaft Meine Organisation, die OSZE, ist ein Kind des Kalten Krieges. In drei Körbe - noch lange nicht in eine Charta - waren in Helsinki vor 25 Jahren die Hoffnungen zu seiner Überwindung verschnürt. Mit einigem Erfolg. Mich zum Beispiel haben die 54 Außenminister damit betraut, die Einhaltung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu überwachen und zugleich davor zu warnen, sobald dieses Grundrecht in den modernen Medien dazu genutzt wird, rassistischen Hass gegen Bürger zu schüren, der den inneren und äußeren Frieden gefährden könnte. Die OSZE hat ihre von allen akzeptierten Prinzipien, aber keine verbindliche Charta.

Brüssel-Europa erinnerte in jüngster Zeit mit Vehemenz daran, eine Wertegemeinschaft zu sein. Auch darum braucht es die Grundrechtscharta. Die Hoffnung, dass aus ihr eines Tages eine europäische Verfassung entsteht, die die Chancen zu einer großen Föderation eröffnet, durfte nicht verschüttet werden.

Ein dramatischer Fehler zeigt, wie rasch die Grundwerteordnung beiseite geschoben werden kann. Als vor fünf Jahren der Vertrag von Dayton das Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina einleitete, entstand aus diesem Abkommen der einzige Staat in Europa, dessen Bürger nach völkischen und nicht nach republikanischen Zuordnungen definiert werden. Im Europa der freien Bürger kann und darf es aber solche Verfassungen nie mehr geben! Auch darum brauchen wir die Grundrechtscharta.

Der Autor ist Publizist und OSZE-Beauftragter für die Freiheit der Medien.

E-Mail: o.friedrich@styria.com

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