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ÖVP und Gesundheitswesen

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Das nun für den Zeitraum eines Jahres abgeschlossene Vertragsprovisorium zwischen der Wiener Ärztekammer und Gebietskrankenkassa stellt einen echten Kompromiß dar und ist daher zu begrüßen. Vor allem gibt es den Verantwortlichen Zeit, in Ruhe zu beraten und zu planen, um in der Modernisierung des österreichischen Gesundheitswesens und speziell in der Reformierung unseres Systems der Pflichtkrankenversicherung einen Schritt weiter zu kommen. Durch die politischen Ferien im Sommer, den Wahlkampf, die Regierungsbildung, schließlich die Budgetdebatte und den legistischen Nachholbedarf bedingt, wird für solche Verhandlungen auf politischer Ebene kaum mehr Zeit als zwischen Februar und Juni 1963 bleiben. Nicht allein die Ärzteschaft wird daher guttun, schon ab September die Diskussion hierüber auf breiter Basis zu eröffnen. Auch die medizinischen Fakultäten Österreichs, die Landessanitätsräte, der Oberste Sanitätsrat, die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, vielleicht auch die im Aufbau begriffene Gemeinschaft der Krankenversicherten selbst, kurz, alle politischen Kräfte des Landes sind aufgerufen, zu echter Lösung beizutragen. Es wäre kaum zu verantworten, im Frühjahr 1963 wieder von „notwendigen Sofortmaßnahmen“ jru sprechen: und i neuerlich, das häßliche Feilschen um Honorarzahlen zu inszenieren, echte Lösungsversuche jedoch als „Abgleiten ins Grundsätzliche“ abzutun und ad Ka-lendas graecas zu vertagen.

Österreichs Sozialisten haben ein klares, marxistisch inspiriertes Konzept auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Sie sind bis heute nicht davon abgerückt, wenn sie es auch nicht als Bestandteil ihres Parteiprogrammes ansehen. Dieses Konzept lautet etwa wie folgt: Verstaatlichung des gesamten Gesundheitswesens, wenn nicht direkt, dann „kalt“ über die Sozialversicherungsträger, denen die Aufgaben eines „Gesundheitsdienstes für alle“ übertragen werden sollen. Nach dem publizistischen Versuchsballon in „Arbeit und Wirtschaft“ am 1. Juni 1959 muß als zweiter Vorstoß in dieser Reihe der Versuch der Wiener Gebietskrankenkasse während des vertragslosen Zustandes gewertet werden, bisher freiberuflich tätige Ärzte als Beamte der Sozialversicherung zu verpflichten. Dieser Versuch war ebenso zum Scheitern verurteilt wie die — in Zusammenarbeit mit Einzelgängern aus dem Lager der Volkspartei — der Wiener Ärzteschaft gegebene Empfehlung, unter Umgehung der eigenen Standesvertretung Einzelverträge mit dem Sozialversicherungsträger abzuschließen und sich so in eine bisher nicht dagewesene Abhängigkeit von der Leitung der Krankenversicherung zu begeben. Und es besteht wohl kein Zweifel: Ein dritter, weit massiverer Versuch, das sozialistische Konzept eines staatlichen Gesundheitsdienstes zu verwirklichen, ist im Fall eines Sieges der Sozialistischen Partei in den kommenden Wahlen zu erwarten.

Die Österreichische Volkspartei hat bisher auf dem Gebiet des Gesundheitswesens kein eigenes Konzept entwickelt, sie hat sich auch keinen der von ihren Freunden vorgelegten Pläne zu eigen gemacht: Man erinnere sich an das Schicksal von Publikationen aus der Ärrtegemeinschaft des Katholischen Akademikerverbandes oder aus dem Österreichischen Akademikerbund. Die der Volkspartei nahestehende Ärzteschaft wurde seit 17 Jahren nicht enger an die Partei herangeführt, man könnte sie daher, besonders in Wien, eher parteifremd nennen. Mit ihrer Einigkeit steht es, wie die letzten Vorgänge zeigen, nicht immer zum besten. Die Heranziehung einzelner Arztpersönlichkeiten zu politischen Funktionen der ÖVP und im Parlament ließ kaum Ansatzpunkte für das Entstehen eines gesundheitspolitischen Konzepts der Volkspartei erkennen. Die von Berufs wegen zur Führung im Gesundheitswesen berufenen Ärzte wurden seitens der Partei weitgehend übersehen. Auch die der Volkspartei nahestehenden beruflichen und sonstigen Interessenvertretungen wurden auffallend wenig mit gesundheitspolitischen Fragen befaßt. Seit der Erwähnung des Terminus „Gesundheitspolitik“ in einer Semmering-Resolution war kaum mehr darüber zu hören. In Gesprächen mit maßgeblichen Funktionären der ÖVP kann man bisweilen immer noch den Eindruck gewinnen, daß das Gesundheitswesen als Domäne des Koalitionspartners betrachtet und diesem daher die Initiative überlassen wird, die eigene Aufgabe hingegen in der Hauptsache im Halten alter Bastionen besteht.

Es mag sein, daß die Sorge der Österreichischen Volkspartei. die Arbeit an einem gesundheitspolitischen Konzept könne divergierende i Interessen zwischen den einzelnen Bünden allzu stark hervortreten lassen, gewissermaßen berechtigt ist. Solche scheinbaren Gegensätze entsprechen aber den im Gesundheitswesen selbst einander gegenüberstehenden Interessengruppen. Diese sind: der Patient und seine Angehörigen, der Arzt und die Ärzteschaft, der private oder öffentliche Krankenhauserhalter, der private oder öffentliche Krankenversicherungsträger, nicht zuletzt die Gebietskörperschaften und die Republik selbst als Gesetzgeber und allenthalben als Zahler erheblicher Kostenbeiträge. Das Zusammenwirken all dieser Faktoren ist noch komplexer: Man bedenke nur die Aufgaben der Unterrichtsbehörden und Schulen auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung, die Interessen der Landesverteidigung, die

engen Wechselbeziehungen zwischen sozialem Gesundheitswesen einerseits und privater und öffentlicher Fürsorge anderseits, die Interessen der Wirtschaft an der Erhaltung und Hebung der Arbeitskraft des Einzelnen, das fundamentale Interesse der ganzen Bevölkerung an prophylaktisch-medizinischen und sozialhygienischen Maßnahmen. Die Aufgaben des österreichischen Gesundheitswesens, dessen integraler Bestandteil die medizinischen Fakultäten in Innsbruck, Graz und Wien sind, gingen nicht nur in der Vergangenheit über die Landesgrenzen weit hinaus: Zu Hunderten stehen unsere Ärzte in Unterricht und Praxis in aller Welt. Zu Tausenden kommen Studierende aus europäischen und überseeischen Ländern in unsere Universitäten, um Ärzte österreichischer Schule zu werden. Kann man sich also vorstellen, daß die Erste Regierungspartei es abgelehnt haben soll, in ihren Reihen ein Gremium von Fachleuten zu bilden, das' sich systematisch mit diesem großen Aufgabengebiet befaßt? Ja, man hat bisher den Eindruck, daß Teilgebiete des Gesundheitswesens innerhalb der Volkspartei mehr oder minder nur fallweise, etwa in der Frage des Neubaus de Wiener Allgemeinen Krankenhauses, bearbeitet wurden.

Ein gesundheitspolitisches Konzept der Österreichischen Volkspartei müßte auf mehreren Säulen entstehen:

1. Auf der Bejahung einer modernen, weitgehend allgemeinen Pflichtkrankenversicherung für die Bevölkerung in dem Ausmaß, als ein echtes Versicherungsbedürfnis für den einzelnen und für die Gesellschaft besteht. Eine Reform der bestehenden Pflichtkrankenversicherungen etwa im Sinn des Artikels in der „Furche“ vom 28. April dieses Jahres.

2. Auf der B e j a h u n g. e ine s f r ei b e r u f 1 i ch t ä t i g e n Ärztestandes als wesentlicher Träger eines gut funktionierenden Gesundheitswesens und einer in Freiheit organisierten Gesellschaft überhaupt. Sicherung der Unabhängigkeit des Arztes in seiner Berufsausübung, auch der notwendigerweise in abhängiger Stellung tätigen Ärzte.

3. Auf der B e j a h u n g echter Leistungen auch im Gesundheitswesen — Leistung des Arztes, der Krankenschwester und des sonstigen medizinischen Personals, Leistung des Krankenhauses, Leistung der pharmazeutischen und sonstigen medizinischen Hilfsindus.trie. Die organisatorischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt honorar- und gehaits-, politischen Regelungen auf diesem Gebiet sollen die Leistung all dieser Personen und Institutionen anspornen, nicht nivellieren. Das Gesundheitswesen stellt in der modernen Gesellschaft einen bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor dar und darf daher, nicht weniger als etwa das Kraftfahrwesen, die Wohnungswirtschaft, die Landesverteidigung oder der Fremdenverkehr, auch als solcher gesehen werden. Ohne Vernachlässigung der sozialen und sozialfürsorgerischen Seiten der modernen Medizin ist gerade die Österreichische Vojkspartei berufen, auch im Gesundheitswesen ihre allgemeinen wirtschaftspolitischen Grundsätze anzuwenden.

4. Und nicht zuletzt aber muß ein gesundheitspolitisches Konzept der Volkspartei aufbauen auf der B e-jahung und Hebung echter Selbstverantwortung des einzelnen Bürgers und seiner Angehörigen für die eigene Gesundheit. Diese Eigenverantworturig kann natürlich durch verschiedene erzieherische Maßnahmen wesentlich gehoben und gestärkt werden. Tragfähig wird sie erst sein, wenn auch eine finanzielle Mitverantwortung des obligatorisch Krankenversicherten in einem tragbaren, aber durchaus spürbaren Ausmaß statuiert wird. Eine solche Forderung in der Politik zu erheben, ist keine Frage der politischen Opportunität oder Popularität, sondern eben eine Frage der notwendigen Reform unseres Gesundheitswesens.

Im Herbst, wenn der Eindruck von so manchen Heftigkeiten und Kurzschlußhandlungen, die den ..Zustand“ begleitet haben, in den Hintergrund getreten sind, wird es unsere Aufgabe sein, die hier angedeuteten Themen energisch aufzugreifen.

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