Ohne Mut und Phantasie "auf zum letzten Gefecht“

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Die zu Mittelparteien geschrumpften Regierungsparteien haben sich auf Koalitionsverhandlungen eingelassen und andere Möglichkeiten, die etwas mehr Mut und Phantasie erfordert hätten, keiner näheren Prüfung unterworfen. Dabei hätte es mindestens zwei Möglichkeiten gegeben, die in Betracht zu ziehen gewesen wären. Die eine hätte darin bestanden, dass eine der Regierungsparteien freiwillig die Rolle der Opposition, die ja auch eine staatstragende und verantwortungsvolle ist, übernimmt und es der anderen überlässt, sich im Rahmen einer Minderheitsregierung eine Mehrheit von Fall zu Fall zu suchen und zu beschaffen. Diese Möglichkeit wäre zumindest auszuloten gewesen, freilich auch ein Weg, den zu erwartenden Widerstand des Bundespräsidenten, der auf die alte, gar nicht mehr große Koalition eingeschworen ist, zu brechen. Die zweite Möglichkeit wäre die gewesen, einen Dritten, konkret die Grünen oder die Neos mit ins Regierungsboot zu nehmen. Denn wenn zwei sich streiten, kann ein Vermittler hilfreich sein. Gerade davor aber hätten und haben die bisherigen Regierungsparteien Angst: auf diesem Wege ihre Macht einzubüßen und dem Dritten als Zünglein an der Waage eine Schlüsselrolle einzuräumen. Lieber nehmen die kleiner und kleinmütiger Gewordenen in Kauf, weiterhin in einem Dauerstreit zu leben.

Vorarlberger SP-Dissident

Bemerkenswert ist, dass der Beschluss, sich auf Koalitionsverhandlungen, allerdings theoretisch ergebnisoffene, einzulassen, im ÖVP Vorstand einstimmig gefasst wurde, während bei der SPÖ, die doch sonst so viel Wert auf Einheit und Geschlossenheit legt, eine Gegenstimme, und zwar die des Vorarlberger Vertreters Michael Ritsch, abgegeben wurde. Der Vorarlberger als Angehöriger eines Völkchens, das keinen Untertanengeist kennt und ähnlich den benachbarten alemannischen Schweizern basisdemokratisch denkt, dürfte als einziger erkannt und zum Ausdruck gebracht haben, dass ein anderer Weg als der tatsächlich begangene zwar riskanter, aber nicht nur interessanter, sondern auch langfristig vielversprechender gewesen wäre.

Als Historiker des Austromarxismus und der Sozialdemokratie fällt mir dazu eine Episode in der Geschichte der Sozialdemokratie ein, die wert ist, aus gegebenem Anlass in Erinnerung gerufen zu werden. Und zwar kam es am Parteitag 1901 im Zusammenhang mit einer Revision des Parteiprogramms von Hainfeld, das am Gründungsparteitag 1888/89 beschlossen worden war, zu einer Debatte, in deren Rahmen der bekannte Politiker und Viktor-Adler-Freund Engelbert Pernerstorfer die Auffassung vertrat, es dürfe keine sakrosankte Parteitheorie wie den Marxismus, geben; eine Annahme, die ihn in der auf dem angeblich wissenschaftlichen Sozialismus basierenden Partei isolierte und zu heftigen Gegenreaktionen führte. Während die entrüsteten Genossen über den schon als abtrünnig geltenden Pernerstorfer herfielen, raffte sich der mutige und kluge Wilhelm Ellenbogen zu einer Verteidigung des Attackierten auf und sprach das über den Anlassfall hinausgehende und bis heute gültige Wort: "Jawohl, es ist ein Verdienst, eine Anschauung zu entwickeln, mit der man ganz allein steht.“ Und wie schaut es mit gehörigem historischen Abstand heute aus? Vom Marxismus als Parteidoktrin, die den Genossen Sicherheit und Überlegenheit gegenüber den politischen Gegnern verleiht, ist so gut wie nichts übrig geblieben, ja, auch das Ringen um eine sinnvolle Bewältigung der politischen Probleme auf geistiger Grundlage ist auf der Strecke geblieben. Mit dem theoretischen Organ der SPÖ Die Zukunft ist ihr nicht nur ein Sprachrohr, in dem einst geistige Kämpfe ausgefochten wurden, abhanden gekommen, sondern auch die Zukunft der Partei selber. Aber die Worte Pernerstorfers und Ellenbogens haben sich als gültig durchgesetzt.

Steigerung der Unzufriedenheit

Der mutige Vorarlberger Michael Ritsch hat eine gute Chance, in die Geschichte als jener einzugehen, der in die Worte der Internationale "auf zum letzten Gefecht“ im konkreten Fall nicht einstimmte. Es wird sich herausstellen, dass der Gang in die neuerliche Koalition kein mutiger und wohl überlegter Schritt war. Denn obwohl die Koalitionsverhandlungen unter dem Druck und der Drohung des Machtverlustes wahrscheinlich zu einem Abschluss kommen und ein Weiterregieren ermöglichen werden, ist es doch unwahrscheinlich, dass dieses letzte Aufgebot eine lange Lebensdauer hat.

Es wäre geradezu symbolisch, wenn dieses Versinken der alten Koalition in die Geschichte mit dem Ablauf der Amtszeit des jetzigen Bundespräsidenten in zwei Jahren zusammenfiele und dann endlich mobileren Formen des Regierens und des Parlamentarismus Platz machte. Es besteht auch die Gefahr, dass die Steigerung der Unzufriedenheit mit der prolongierten Form der Regierung zu einer Erstarkung populistischer Strömungen und autoritärer Persönlichkeiten führt. Auf all dies und vielleicht noch mehr hat man sich mit der neuerlichen Verbündung von Rot und Schwarz eingelassen. Man hat die alte Weisheit nicht begriffen und beherzigt, dass man sich von Dingen rechtzeitig trennen muss, bevor sich die Dinge von einem trennen. Die große, kleingewordene Koalition hat ihre historischen Verdienste gehabt, von denen sie aber nicht endlos lang zehren kann. Freilich soll man die Hoffnung, dass trotz aller schlimmen Vorzeichen ein Wunder geschieht, nicht aufgeben, aber es ist schwer zu glauben, dass Unbelehrbaren die Gnade eines Wunders geschenkt wird.

* Der Autor war Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien

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