Ohne Papiere gegen Vorurteile

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Bis zu 300.000 Menschen sind in der "Sans-Papiers"-Bewegung organisiert: die Migranten ohne Aufenthaltspapiere kämpfen um Aufmerksamkeit.

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Bis zu 300.000 Menschen sind in der "Sans-Papiers"-Bewegung organisiert: die Migranten ohne Aufenthaltspapiere kämpfen um Aufmerksamkeit.

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Viele leben seit Jahren in Frankreich, haben einen festen Wohnsitz, Arbeit. Einige sind sogar in Frankreich geboren, fühlen sich als Franzosen - und sind es dennoch nicht: die "Sans-Papiers", die illegal(isiert)en Migranten, denen zum "echten Franzosen-Sein" die Aufenthaltspapiere fehlen (sans papiers = ohne Papiere).

Die Anzahl der Sans-Papiers wird auf 300.000 geschätzt. Ein Großteil kommt aus Afrika, viele kommen aus Lateinamerika, andere aus China und den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Menschen aus insgesamt 48 Ursprungs-Nationen sind in der "Coordination Nationale de Sans-Papiers" organisiert, die ehemaligen französischen Kolonien spielen eine starke Rolle.

150.000 Sans-Papiers sind im Juni vergangenen Jahres aus der Anonymität und der Illegalität aufgetaucht und der Aufforderung von Innenminister Jean-Pierre Chevenement gefolgt, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Knapp die Hälfte erhielt kurzfristige Aufenthaltsgenehmigungen. Die französische Polizei verfügt nun über eine umfangreiche Kartei mit Namen, Adressen und Arbeitsplätzen. Ein großer Erfolg für die einen, eine Quelle ständiger Angst vor Denunziation, Verhaftung und Abschiebung für die restlichen. Für die Sprecher der Bewegung ein Beweis für die Intelligenz und Raffinesse der Regierung unter Ministerpräsident Lionel Jospin.

Der Kampf der Sans-Papiers ist ein politischer Kampf. Die Regierung macht sie für Arbeitslosigkeit und steigende Kriminalitätsraten verantwortlich, ganz abgesehen vom Ausländerhaß, den der Front National Jean-Marie Le Pens schürt. Daher ist in den Augen der "Coordination" eine der wichtigsten Aufgaben die Aufklärung der Bevölkerung - in der Hoffnung, Sympathien und Verständnis zu wecken. Sie versuchen zu erklären, warum sie in Frankreich leben und leben möchten, und daß nicht alle Sans-Papiers prinzipiell Kriminelle sind. Das Problem auf Schlagworte - wie "Nachwehen der Kolonialzeit" und "Traum vom besseren Leben" - zu reduzieren, wäre zu simpel. Neben der Forderung nach Aufenthaltsgenehmigungen und dem Ende von Verhaftungen und Abschiebungen geht es den Sans-Papiers um viel mehr: um die Sensibilisierung der französischen Bevölkerung in Bezug auf politische Grundfragen wie Verschuldung der Dritten Welt, Nord-Süd-Beziehungen, soziale Verantwortung und Neokolonialismus.

Durch verschiedenste Aktionen versuchen die Sans-Papiers landesweit auf die Situation der illegalisierten Migranten aufmerksam zu machen. Spektakulär war die wochenlange Besetzung der Kirche St. Ambroise in Paris im März 1996 und ihre gewaltsame Räumung durch Spezialeinheiten der Polizei. Spektakulär sind auch die Versuche, Züge, die Sans-Papiers zum Hafen in Marseille bringen sollen, zu stoppen, indem sich Aktivisten an die Gleise ketten, und spektakulär sind die Aktionen auf den Flughäfen mit dem Ziel, Abschiebeflugzeuge zu behindern.

Patenschaften Meist aber organisieren die Sans-Papiers Demonstrationen und Informationsveranstaltungen. Gewerkschaften und Arbeitslose haben sich ebenso mit ihnen solidarisiert wie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Intellektuelle. Auch eine Art persönliche "Patenschaft" von Franzosen für Sans-Papiers wurde eingeführt. Rechtlich hat sie keine Bedeutung, moralisch ist sie für die Illegalen eine große Stütze. Die französischen Bürger leisten durch diesen Akt zivilen Ungehorsam.

Denunziation, Verhaftung und Abschiebung, das sind die Hauptängste der Sans-Papiers. Die Kinder in die Schule zu schicken, kann ihnen ebenso zum Verhängnis werden wie ein Krankenhausaufenthalt. Eines ihrer Hauptprobleme ist die Arbeit. Sofern sie eine finden, sind sie ihrem Arbeitgeber rechtlos ausgeliefert. Einige Branchen, so die Bau- und Textilbranche, setzen auf diese billigen Arbeitskräfte. Auch in der Gastronomie und bei der Ernte sind verstärkt Sans-Papiers im Einsatz.

Mit ihren Forderungen und Ideen der Umverteilung stoßen die Sans-Papiers aber auch auf massiven Widerstand. Wenig Sympathien bringen ihnen Aktionen wie organisierte Plünderungen von Warenhäusern und Supermärkten sowie Besetzungen teurer Restaurants ein. Absolut negative Schlagzeilen machten die Sans-Papiers im vergangenen Jahr, als abgeschobene Migranten ein Flugzeug demolierten und einige Besatzungsmitglieder zum Teil schwer verletzten.

In den Anfängen der Bewegung vor zwei Jahren waren es gerade 314 Personen, die sich zusammenschlossen. Heute lassen sich - je nach Zählart - 150.000 bis 300.000 Menschen zur Gruppe der Sans-Papiers zählen. Nach der Keimzelle in Paris sind überall im Land regionale Komitees entstanden, als Dach gibt es jetzt das nationale Komitee der Sans-Papiers. Die Sprecher der einzelnen Komitees treffen einander regelmäßig, stimmen große Aktionen miteinander ab. Parallel zu dieser Strukturierung kam es auch zu einem internen Demokratisierungsprozeß und zu internen Diskussionen über die Stellung und Rolle der Frau innerhalb der Gruppe der Sans-Papiers, in der so viele unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten vereint sind.

Nicht nur innerhalb der Sans-Papiers prallen oft verschiedene Mentalitäten aufeinander, diese Unterschiede im Denken und Handeln, unterschiedliche religiöse und soziale Hintergründe, Vorurteile und Ängste sind auch das eigentliche Problem, um das es in der Diskussion um die Sans-Papiers geht. Ein brennend heißes, ein für alle Länder aktuelles Problem.

Bis vor ein paar Tagen blickte alle Welt nach Frankreich. Anlaß war die Fußball-WM. König Fußball regierte auch die Sans-Papiers. Sie hatten für die Wochen der WM keine Aktionen geplant. Nichts ist attraktiver und publikumswirksamer als das runde Leder. Die dunkelhäutigen Mitglieder der französischen National-Elf repräsentieren wie alle anderen Frankreich. Für alle.

Anfang Juli wurde eine Studie präsentiert, die von der französischen Regierung in Auftrag gegeben worden war: zwei von fünf Franzosen geben zu, ausländerfeindliche Gefühle zu hegen. Ein Fünftel der französischen Bevölkerung bezeichnet sich also offen als ausländerfeindlich. Und rund vierzig Prozent vertreten die Meinung, daß es in Frankreich zuviele Schwarze und Araber gibt.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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