Europa begeht ein Dezennium - trotz Kosovo und aller anderen ungeahnten Konflikte: im kollektiven Gedächtnis ist 1989 das Jahr, in dem die Berliner Mauer fiel und der Eiserne Vorhang zerschnitten wurde.
Ein Vorspiel dazu fand im Fernen Osten statt - und ist bis zum heutigen Tag ein Fanal des Scheiterns von Freiheitsdurst geblieben: Am 4. Juni gaben Deng Xiaoping, der alte Mann Chinas, und seine Leute der Gewalt den Vorzug. Den Studenten am Platz des himmlischen Friedens in Peking wurde blutig klargemacht, daß das Regime mit seinen "Reformen" alles mögliche, nicht aber die Freiheit gemeint hatte.
Der wirtschaftliche Gang der Dinge wurde weiter zugelassen, eine politische Entwicklung, wie sie wenige Monate später wie ein Feuersturm durch Europa fegte, blieb angehalten. Wobei die Altherrenriege in Peking mit einem Blick auf das Chaos nach dem Zerfall der Sowjetunion sich durchaus bestätigt fühlen mag - auch wissend, daß der Westen China gegenüber seine hehren Prinzipien von Freiheit nicht umzusetzen gedenkt.
Dennoch bedeutete das Massaker vom Tienanmen-Platz nicht nur das Ende für Chinas Demokratiebewegung, es war auch ein Mosaikstein für den Verlauf der europäischen Geschichte im Wahnsinnsjahr 1989: Wer weiß, wie weit etwa die Polizei in der DDR zu gehen bereit war, hätte nicht die Angst vor einem globalen Wirbel, wie er nach dem 4. Juni die Weltöffentlichkeit erfaßt hatte, bei manchem kommunistischen Hardliner eine Ladehemmung hervorgerufen?
Auch wenn obiges Einzelszenario nur Spekulation ist: Der Pekinger 4. Juni 1989 hat mehr mit der Befreiung Europas im darauffolgenden Halbjahr zu tun, als manche wahrhaben wollen. Auch aus diesem Blickwinkel heraus ist die peinliche Frage zu richten, wie solidarisch Europa sich den chinesischen Freiheitsliebenden gegenüber verhielt. Das Ergebnis - ernüchternd und desaströs: Die Nomenklatura Chinas geht heute in allen westlichen Staatskanzleien aus und ein.
In Österreich wird - erst vor wenigen Monaten geschehen - sogar alles getan, damit sich ein Besucher wie Chinas Staatschef Jiang Zemin nicht vor ein paar Demonstranten fürchten muß. Aber warum sollte ein Land, das bald nach 1989 begann, sich gen Osten und Süden abzuschotten, mit Freiheitsdrängenden im Fernen Osten (der als "Gelbe Gefahr" noch durch viele Köpfe spukt) Solidarität üben?
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