"Pol Pot starb ungestraft"

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Kambodschaner arbeiten die Jahre des Khmer-Rouge-Terrors auf.

Mama', schreie ich vollkommen außer mir. Mama! Geak!' Keine Antwort. Sie sind nicht hier', gibt mir eine Stimme zur Antwort. Eine junge Frau steht in der Tür der benachbarten Hütte. Wohin sind sie gegangen?' Ich weiß es nicht. Sie sind mit Soldaten gegangen', sagt die junge Frau leise und wendet ihren Blick ab. Sie starrt in die Ferne, sie weigert sich, mich anzusehen. Wir wissen beide, was es bedeutet, wenn Soldaten ins Dorf kommen und jemanden mitnehmen."

Wie ein Film läuft in Loung Ungs Kopf dann ab, was mit ihrer Mutter und ihrer jüngsten Schwester passiert sein muss. Loung ist selbst noch ein Kind, aber in den mehr als dreieinhalb Jahren seit der Machtübernahme der Khmer Rouge in Kambodscha hat sie zu viel miterleben müssen, um nicht zu wissen: Wen die Soldaten so unvermittelt aus dem Dorf abholen kommen, der wird fast ausnahmslos hingerichtet.

Vor der Mutter und Geak hatte Loung bereits eine andere Schwester und dann den Vater verloren. Unter den elendsten Bedingungen war die um einige Jahre ältere Keav in einer Anstalt zugrunde gegangen, die zwar als Krankenhaus bezeichnet wurde, aber nicht einmal die rudimentärste Versorgung gewährleisten konnte. Der Vater war dann ebenfalls von Soldaten abgeholt worden, wohl weil die Roten Khmer trotz aller Versuche der Familie, ihr früheres Mittelklasseleben in der Hauptstadt Phnom Penh geheim zu halten, davon Kunde erhalten hatten.

Angst, Hunger, Gewalt

Loung selbst überlebte nicht bloß, wie auch einige andere Schwestern und Brüder. Mit dem Ältesten gelang ihr die Flucht aus der Heimat und über mehrere Lager schließlich in die USA, wo sie vor allem eines wollte: vergessen. Die Angst, den Hunger, die Zwangsarbeit und die Gewalt der Jahre unter den Khmer Rouge vergessen. Vergessen, was ihrer Familie widerfahren war. Vergessen.

"Ich habe mir die Haare schneiden und eindrehen lassen. Ich habe meine Augen dunkel umrandet, damit sie runder und westlicher wirken. Ich hatte gehofft, wenn ich Amerikanerin würde, könnte das meine Erinnerungen an den Krieg auslöschen", gesteht Loung Ung heute ein. Fünf Jahre war sie alt, als die Roten Khmer am 17. April 1975 in Phnom Penh einmarschierten. Über 20 war sie, als sie begann, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Als Sprecherin der Kampagne für eine Welt ohne Landminen war sie nun bereit, über den Völkermord zu sprechen, dessen sich das kommunistische Pol-Pot-Regime in ihrer Heimat zwischen 1975 und 1979 schuldig gemacht hatte. Sie brachte die Kraft auf, wieder in ihre Heimat zu reisen und den Kontakt mit den dort verbliebenen Mitgliedern ihrer Familie aufzunehmen. Schließlich fühlte sie sich auch stark genug, um in einem Buch die Pol-Pot-Jahre aus ihrer eigenen Erinnerung heraus literarisch-dokumentarisch nachzuzeichnen.

Das zunächst in den USA und 2001 in deutscher Übersetzung erschienene Werk mit dem Titel "Der weite Weg der Hoffnung" reiht sich in eine Serie von Büchern ein, in denen seit einigen Jahren Kambodschaner ihre persönlichen Erfahrungen niederlegen und bisweilen auch ganz bewusst gegen das Vergessen anschreiben. Die meisten dieser Werke sind auf Englisch, einige auf Französisch erschienen.

Mehr als zwei Jahrzehnte sind seit dem Sturz von Pol Pot durch die Vientnamesen vergangen, vier Jahre seit dem Tod von Pol Pot in den Dschungeln von Westkambodscha. Ob es je zu Prozessen gegen die noch lebenden ehemaligen Führungsmitglieder der Khmer Rouge kommen wird, steht bis heute nicht fest. Denn es gibt landesintern mächtige Interessen, die einem Tribunal entgegenstehen. Die kambodschanische Bevölkerung sei immer noch traumatisiert und habe ein Recht darauf, dass die Täter vor Gericht gebracht würden, erklärte erst Anfang Mai dieses Jahres erneut der UNO-Sondergesandte für Menschenrechte in Kambodscha, Peter Leuprecht. Er bedauerte, dass die UNO zu Jahresbeginn die Gespräche mit Phnom Penh über ein Kriegsverbrechertribunal offiziell abgebrochen hatte. Der Grund dafür war, dass Phnom Penh keinerlei Bereitschaft hatte erkennen lassen, das von der UNO vorgesehene gemischte Tribunal mit nationalen und internationalen Richtern anzuerkennen sowie zu akzeptieren, dass das internationale Recht gegenüber dem nationalen Vorrang habe. Ein ausschließlich nationales Tribunal könnte nach Ansicht der Vereinten Nationen derzeit aber weder die Unabhängigkeit der Richter noch die erforderlichen juristischen Standards gewährleisten.

"Pol Pot starb ungestraft, ohne dass er sich je für seine Taten hatte verantworten müssen. Und möglicherweise werden auch die überlebenden Khmer-Rouge-Führer nie bestraft werden. Aber irgendwie, glaube ich, wird es Gerechtigkeit geben. Laut der buddhistischen Religion ziehen gute Taten gute Ergebnisse nach sich, schlechte Taten führen zu schlechten Ergebnissen. Pol Pot und seine Henker werden ernten, was sie gesät haben", will Vann Nath dennoch glauben. Von den Roten Khmer in das Gefängnis S-21 (Tuol Sleng) in Phnom Penh gebracht, überlebte er nur dank seiner Ausbildung zum Maler: Die Khmer Rouge brauchten Leute, die nach Vorlagen Porträts von Pol Pot malten, und die Werke Vann Naths, die dieser in dem ständigen Bewusstsein malte, dass die Alternative der sichere Tod wäre, entsprachen ihren Erwartungen.

Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Regimes hat Vann Nath, der heute ein kleines Restaurant in Phnom Penh führt, seine Gefangenschaft in dem Buch "A Cambodian Prison Portrait. One Year in the Khmer Rouge's S-21" dokumentiert. S-21, wo unter den Khmer Rouge mehr als 14.000 Häftlinge hingerichtet wurden, ist heute eine - nicht unumstrittene - Gedenkstätte für den Genozid. Nach Ansicht mancher Kambodschaner würde ihre Schließung den Heilungsprozess im Land fördern und die gespaltene Nation wieder zusammenwachsen lassen. "Ich jedoch bin unbedingt dafür, dass das Museum erhalten bleibt. Wenn das Tuol-Sleng-Museum geschlossen oder für einen anderen Zweck umgewidmet wird, bedeutet das, dass jene Männer, Frauen und Kinder, die dort umkamen, einfach eliminiert wurden; dass ihr Tode ohne Bedeutung war. Ich möchte die Erinnerung wachhalten. Unsere Kinder müssen lernen, Menschen nie wie Tiere zu behandeln, oder noch schlechter als Tiere", schreibt Vann Nath in seinem Buch.

Die Erinnerung wachhalten wollte schließlich auch Loung Ung. Ihre in den USA geborenen Nichten sollen durch ihr Buch von den Großeltern erfahren, die sie selbst nie kennen lernen konnten, schreibt sie im Epilog ihres Werkes. Die heute ebenfalls in den USA lebende kambodschanische Tänzerin Sophiline Cheam Shapiro hat Texte von Liedern niedergeschrieben, die sie als Kind unter den Khmer Rouge lernen mußte. "Die Khmer Rouge hofften, unsere Geschichte auszulöschen, dabei haben ihre Lieder nun selbst einen wichtigen Platz in dieser Geschichte eingenommen. Nie werde ich daher die Lieder vergessen, die meine Feinde mich lehrten", erklärt Cheam Shapiro in ihrem Beitrag für das von Dith Pran herausgegebene Buch "Children of Cambodia's Killing Fields".

Stimme für die Toten

"Es ist verrückt, in die Zukunft zu blicken, ohne in einem Auge die Vergangenheit zu behalten", betont Chanrithy Him in ihrem Werk "When Broken Glass Floats". Auch bei ihr brauchte es Jahre, bis sie die Dinge so sehen konnte und wollte. Zunächst waren bei ihr, wie bei so vielen anderen, "die Wunden tief verborgen, beiseite geschoben in unserem Ringen um akademischen Erfolg". Doch an der Cleveland High School in Portland im US-Bundesstaat Oregon, wohin in den achtziger Jahren eine große Anzahl kambodschanischer Flüchtlinge gekommen waren, erkannte ein Lehrer, wie schwer viele Kinder traumatisiert waren. Ein Khmer Jugendprojekt wurde lanciert, und Chanrithy Him begann bald selbst für diese Initiative Personen über ihre Erfahrungen unter dem Pol-Pot-Regime zu interviewen.

Selbst einst Opfer der Khmer Rouge und nun Forscherin zum Thema Vergangenheitsbewältigung, beschloss Chanrithy Him schließlich, ihre eigene Geschichte niederzuschreiben. Die Zeit war gekommen, wo sie ihre "Stimme jenen Kindern verleihen wollte, die nicht mehr für sich selbst sprechen können. Eine Stimme geben den toten Eltern, Schwestern, Brüdern und Verwandten und auch jenen, deren Überreste in nicht markierten Gräbern in ganz Kambodscha verstreut sind".

Zitierte Werke:

Loung Ung, Der weite Weg der Hoffnung, aus dem Amerikanischen von Astrid Becker, Argon Verlag, Berlin 2001

Vann Nath, A Cambodian Prison Portrait. One Year in the Khmer Rouge's S-21, White Lotus Co, Bangkok 1998

Dith Pran, Children of Cambodia's Killing Fields. Memoirs by Survivors, Yale University Press, New Haven/London 1997

Chanrithy Him, When Broken Glass Floats. Growing up under the Khmer Rouge, Norton & Company, New York 2000

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