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Helmut Schüller: Politik auf dem Buckel der Alten

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Der Caritas-Präsident übt heftige Kritik an der Ausländergesetzgebung und ihren Auswirkungen: Werden die Sozialpartner die alten Leute pflegen?

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Der Caritas-Präsident übt heftige Kritik an der Ausländergesetzgebung und ihren Auswirkungen: Werden die Sozialpartner die alten Leute pflegen?

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DIE FURCHE: 1993 war eine Briefbombe an Sie gerichtet, was empfinden Sie angesichts der neuen Anschläge?

Helmut Schüller: Man erschrickt wieder, weil man doch insgeheim gehofft hatte, daß das eine vorübergehende Welle von Gewalt war. Man erschrickt auch als Caritas-Verantwortlicher, denn theoretisch könnten alle Caritas-Einrichtungen Ziele von Aggression werden. Das macht mir am meisten Sorge, weil wir in diesen Stellen ja alles auf Vertrauen aufbauen, und es wäre ein Horror für mich, über Sicherheitsvorkehrungen nachdenken zu müssen. Gleichzeitig kommt das Thema der Grundrechtseinschränkungen auf der anderen Seite der Sicherheitsdebatte herein, wo man sich als besorgter Staatsbürger schon fragen muß: Wo hört für uns der Rechtsstaat auf? Wir haben das ja ein erstes Mal bei der Ausländergesetzgebung, wo Relativierungen von Recht vorgenommen werden, wir haben es jetzt in der Sicherheits- und Polizeibefugnisdebatte. Ich glaube, wir überschreiten hier eine Linie, von der wir bis vor kurzem gemeint hätten, sie wäre besser nicht zu überschreiten.

DIE FUCHE: Wenn Sie Abgeordneter wären, würden Sie gegen solche Einschränkungen stimmen?

Schüller: Ich glaube nicht, daß ich dafür stimmen würde. Mir scheint alles andere noch nicht ausgereizt. Ich glaube, daß zu viel Verantwortung in zu wenigen Händen liegen würde.

DIE FURCHE: Es gibt Diskussionen über das sogenannte Kirchenasyl für ausländische Flüchtlinge. Wie stehen Sie zur Meinung, man dürfe auch hier den Rechtsstaat nicht aushohlen?
Schüller: Das mit der Rechtsstaataushöhlung könnte man elegant zurückgeben: Wo wird hier der Rechtsstaat ausgehöhlt, wenn Grundrechte des Menschen auf unserem Staatsterritorium nicht mehr gesichert werden? Ich bleibe dabei, es handelt sich nicht um die Einrichtung einer neuen Instanz oder eines fiktiven Rechtsbereiches, es handelt sich um Situationen, in denen offenkundig für die Betroffenen lebensgefährliche Behördenentscheidungen einfach revidiert werden müssen. Es geht um Zeitgewinn, um den Versuch, nochmals das Gespräch zu suchen, das Überdenken von Entscheidungen zu erzwingen. Die Beispiele aus Deutschland zeigen, daß ein hoher Prozentsatz der Entscheidungen anders ausgeht als vorher.

Ich war nie besonders glücklich, eine abstrakte Kirchenasyldebatte zu führen. Mir geht es darum, aufzuzeigen, daß man als Helfer eines Menschen in solche Situationen kommen kann. Und zwar als einer, der nicht antritt und sich überlegt: Kann ich Gesetze brechen in diesem Land, oder wie werde ich möglichst schnell zum theologisch-motivierten Anarchisten? Das sind ja alles unfreiwillige Situationen. Da beginnt jemand, Hilfe zu geben, macht sich mit der Geschichte eines Menschen vertraut, sieht plötzlich, was dem droht, und handelt.

Sind das nicht die wahren Verteidiger des Rechtsstaates, die in Wahrheit die Standards so halten, die an sich für uns alle gelten? Man kann die Österreicher nur daran erinnern, daß es keine einzige Rechtsbeugung gibt, die, wenn sie hingenommen wird, nicht morgen auch dem Nächsten drohen wird. Das ist ein Ast, auf dem wir alle sitzen, nicht nur der Ausländer.

DIE FURCHE: Kritisieren Sie eher die Gesetze, die Ausländer betreffen, an sich oder mehr deren Anwendung?
Schüller: Beides. Ich glaube, man muß bei der Kritik an den Gesetzen bleiben. Wenn man sie sich genau anschaut, dann transportieren diese Gesetze oft schon von ihrer Körpersprache eine Botschaft an den Beamten, und die lautet: möglichst wenig Asylwerber, möglichst rasche Abschiebung von Leuten die auch nur irgendwie Probleme bereiten könnten. Sich dann zu wundern, daß die Vollziehung nicht alles aufholt, wäre fadenscheinig. Natürlich ist der Vollzug von dieser Kritik nicht auszunehmen, weil sehr viel auch in den Ermessensspielraum des Beamten gelegt wird.

DIE FURCHE: Erkennen Sie Ansätze zu einer positiven Reform dieser Gesetze?
Schüller: Ich möchte kein Vertrauen aussprechen, das im Augenblick noch nicht gerechtfertigt ist, die Dynamik der Gesetze ist voll wirksam. Es wird überhaupt nichts gestoppt, auch nicht in den Vollzügen. Da und dort sind Dinge gekappt worden, ich würde sagen Absurditäten, aber ich weigere mich, es als Erfolg zu feiern, daß ein hier geborenes Kind jetzt nicht mehr auf die Quote angerechnet wird.

DIE FURCHE: Mangels Beschäftigungsbewilligungen für Ausländer können Pflegeeinrichtungen gar nicht ihr Leistungspotential ausschöpfen...
Schüller: Man muß die Frage stellen, ob die Sozialpartner demnächst selber die alten Leute pflegen werden. Hier wird Politik auf dem Buckel der Aufbaugeneration gemacht. Das sind genau die Leute, die wir in den Portisch-Filmen sehen dürfen, die damals Österreich aufgebaut haben, die liegen jetzt in den Pflegebetten. Und jetzt kommt eine Sozialpartnerschaft daher in den Vergabeausschuß der Arbeitsämter und erklärt einfach Beschäftigungsbewilligungen für die Pflege alter Menschen für nicht nötig.

Hier bahnt sich etwas an, was ich vor Jahren schon vorausgesagt habe, langsam bilden sich jene Gruppen heraus, auf deren Buckel man leichter Politik machen kann, zunächst eine ganze Beihe von Ausländern, jetzt die pflegebedürften alten Leute. Manche reiben sich ganz erschreckt die Augen: Wie ist denn das möglich? Es ist möglich, weil eine Politik möglich geworden ist, die beinhart mit der Verknappung der Arbeitskräfte arbeitet, die den Arbeitsmarkt in dieser Hinsicht steuern will. Offensichtlich sollen möglichst wenig Leute möglichst viel auf diesem Arbeitsmarkt verdienen können. Kam bis vor kurzem der Vorwurf, wir würden Ausländer, die alle in Angst und Schrecken versetzen und Verbrechen begehen, zwangsweise hereintransportieren wollen, so haben wir es jetzt schon mit der Frage zu tun: Wenn Ausländer unsere eigenen Inländer pflegen, soll das auch nicht mehr geschehen?

DIE FURCHE: Obwohl Inländer ja diese Arbeit gar nicht übernehmen wollen.
Schüller: Nein, eh nicht. Aber wir sind damit bei einem Grundproblem unserer modernen Sozialpolitik, und das ist letztlich auch das Problem Westeuropas: der Schlüsselmarkt ist der Arbeitsmarkt. Von dem geht in doppelter Hinsicht Druck aus. Er drückt auf der einen Seite im Inland quasi die Leute heraus, die zu schwach sind, sich in ihm zu behaupten, und er drückt global, das ist das Weltwirtschaftsthema unter dem Aspekt der Arbeitsplatz- und Vollbeschäftigungssicherung, auch die Entwicklung der gesamten Welt in andere Bichtungen. Ich glaube, Politik muß sich überlegen, ob sie wirklich in dieser Weise fortfahren will.

Es reden alle von Vollbeschäftigung, aber man hat den Eindruck, wenn ein einziger Fenstertag ist, ist halb Österreich leer. Eines ist klar: Wenn es keine Selbstbescheidung gibt, wenn die Menschen, die sicher und satt sind, nicht überlegen, ob sie das Darüber-hinaus-Gehende nicht anderen zugute kommen lassen könnten, nicht im Sinne von Almosen, sondern im Sinn von mehr Spielräumen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, dann wird Politik sich nicht viel rühren können. Das ist eine Herausforderung an die politischen Bewegungen, ihrer eigenen Klientel diese Sachverhalte zu erklären und zwar ohne schön zu färben, weil die nächste Wahl kommt. Das ist auch eine Herausforderung an die Interessenvertretungen.

Es ist auch eine Forderung an die Kirchen, von sich aus in den eigenen Reihen Nachdenklichkeit zu erzeugen und unbequeme Themen anzuschneiden, wie die Verpflichtungen der Solidarität, die Möglichkeiten der Selbstbescheidung. Sonst wird aus unserem Ganzheitsgebilde ein System, in dem die Menschenwürde von immer weniger Mitgliedern immer weniger gesichert wird.

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