Politik im Zeitalter eines neuen Wutbürgertums

Werbung
Werbung
Werbung

Die Ausbreitung des Massenkonsums -gekoppelt mit dem Aufbau sozialer Sicherungssys teme - hat die westlichen Industrieländer nach 1945 befriedet. Aus politisch "heißen" Gesellschaften, die für nationalistische und rassistische Ziele fanatisiert waren, wurden "abgekühlte". Kollektive Emotionen zeigte man für die eigene Fußballmannschaft oder das nationale Skiteam, immer weniger für politische Ideen oder Bewegungen. Auch weil die Verirrungen im Nationalsozialismus politische Betätigung desavouiert haben. Die Revolten von 1968 -ohnedies weitgehend auf das studentische Milieu beschränkt - bildeten nur scheinbar eine Ausnahme und sind auch im Kontext der Prosperitätsphase zu verstehen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schienen der Sieg von Demokratie westlicher Prägung und freier Marktwirtschaft besiegelt. Dem postheroischen Zeitalter mit starken pazifistischen Strömungen - Wohlstandsbürger ziehen nicht mehr in den Krieg -folgte das postpolitische Zeitalter. Nichts anderes meinte Francis Fukuyama mit dem "Ende der Geschichte". Eine zunehmende Säkularisierung schien auch das postreligiöse Zeitalter einzuläuten.

"Ich-AG" statt Solidarität

Die Geschichte kam, wie wir wissen, anders. Befreit von allen Fesseln und ohne politischen Widerpart zeigte der Kapitalismus wieder sein hässliches Gesicht und erinnerte uns an seine Krisenhaftigkeit. Der Abschied von Vollbeschäftigung und hohen Wachstumsraten schwächte die Gewerkschaften. Dem Wohlfahrtsstaat folgte immer mehr der Wettbewerbsstaat und dieser führte in den Schuldenstaat. Die Spielräume gestaltender Politik wurden enger, die internationalen Interdependenzen größer. Der "Fahrstuhleffekt", der alle weiter nach oben brachte, geriet ins Stottern. Nicht mehr alle wurden mitgenommen. Das "Ich-AG"-Denken gewann Oberhand gegenüber dem Wert der Solidarität. Mit dem politischen Islam und neuen fundamentalistischen christlichen Bewegungen auf der einen, boomenden Esoterik-und Sinnangeboten auf der anderen Seite war auch das Religiöse wieder zurück. Krisendiskurse bestimmen die öffentlichen Debatten -von der Umwelt-und Klimakrise über die Wirtschafts-und Finanzkrise bis zur Demokratie-und Institutionenkrise. Der Vertrauensverlust in die Lösungskompetenz der Politik scheint proportional zur Zunahme der Probleme, der gefühlten Bedrohungen, aber auch des verfügbaren Wissens zu wachsen.

Bemerkenswert ist, dass in der aktuellen Krisengemengelage nicht politische Parteien reüssieren, die sich für die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates, eine faire Verteilung des Erwirtschafteten oder den Schutz der Umwelt einsetzen. Vielmehr profitieren jene, die gegen das politische System auftreten - obwohl sie selbst Teil davon sind. Die sozial Benachteiligten als Nutznießer des "überforderten" Sozialstaats brandmarken und - insbesondere -die Unterbindung des Zuzugs weiterer Flüchtlinge oder Migranten als Allheilmittel propagieren. Die Geflüchteten wurden zum Sicherheitsrisiko erklärt, die Bedrohten mutierten zu den Bedrohern, wie eine aktuelle Studie der renommierten Linguistin Ruth Wodak zeigt.

Die neue Rechte setzt auf Fremdenfeindlichkeit und nationalistische Abschottung, die politische Mitte rutscht nach rechts. Die Schließung der Balkanroute machte einen Außenminister zum Bundeskanzler. Das Wording, dass es um die Unterbindung des Schlepperwesens gehe, macht für die betroffenen Flüchtlinge keinen Unterschied, da keine legalen Fluchtrouten eröffnet wurden.

Nun wäre es verkehrt, Flucht und Migration zu tabuisieren, so zu tun, als gäbe es keine Probleme. Im Wesentlichen lassen sich vier Positionen ausmachen: Die Vertreter von "open borders" plädieren für eine globale Bewegungsfreiheit, nicht nur für Kapital und Warenverkehr, sondern auch für Menschen. Eine Position, für die wohl kaum demokratische Mehrheiten zu finden sein werden. Eine zweite Gruppe, die Utilitaristen, argumentieren mit dem Nutzen von Migrantinnen und Migranten aus demografischen und /oder arbeitsmarktpolitischen Gründen. Diese Argumentationslinie wird insbesondere von Wirtschaftsliberalen vertreten. Die Debatte über das Bleiberecht nicht anerkannter Flüchtlinge, die derzeit erfolgreich eine Lehre oder andere Ausbildung absolvieren, zeigt, dass der Übergang zur dritten Position fließend ist. Die Vertreter dieser Gruppe pochen auf moralische Verantwortung und menschenrechtliche Verpflichtung reicher Staaten, Menschen aus ärmeren Ländern bzw. aus Krisengebieten Aufnahme zu gewähren. Diese Befürworter entstammen mehrheitlich dem bildungsbürgerlich-liberalen Milieu, einer Gruppe also, die durch Asylwerbende und Migranten am Arbeitsmarkt am wenigsten tangiert ist. Die vierte Gruppe schließlich fordert die Schließung aller Grenzen und den Stopp von Zuwanderung. Diese Sichtweise findet breiten Anklang bei jenen, die tatsächlich um ihre Jobs fürchten (müssen), bei ehemaligen sozialdemokratischen Stammwählern, früheren Zuwanderern, aber auch bei gut situierten, konservativen Wohlstandsbürgern. Bei Letzteren ist von einer Art "Wohlstandschauvinismus" auszugehen.

Schmerzgrenze der Selbstverleugnung

Warum lässt sich mit dem Thema Flucht und Migration derzeit so stark punkten? Unterschiedliche Erklärungsmodelle bieten sich an. Sündenbockstrategien sind historisch hinlänglich bekannt. Es ist offensichtlich leichter, Probleme bestimmten Menschen bzw. Gruppen in die Schuhe zu schieben, als deren systemische Ursachen zu erkennen und zu beseitigen. Im Netz kursiert eine Karikatur überschrieben mit "Der selektive Wutbürger". Darin antwortet ein Mann seiner Frau, die ihm aus der Zeitung über die Einkommen der Reichen vorliest, ihm sei das zu komplex. Er habe lieber seinen Hass auf die Flüchtlinge. Rationale Auseinandersetzung erfordert mehr Anstrengung als emotionale Schuldzuschreibung. Abstrakte Systeme eignen sich nicht für Feindbilder. Menschen fürchten sich nicht vor zu viel CO2 in der Atmosphäre, sondern vor "zu vielen" Flüchtlingen. Und Protest formiert sich eher gegen Benzinpreiserhöhungen oder Geschwindigkeitsbegrenzungen als gegen den Klimawandel oder den Blutzoll, den der Straßenverkehr jährlich fordert.

Ein zweiter Erklärungsstrang führt die Vereinzelung in der modernen Konsumgesellschaft und die starke Fremdbestimmung im Korsett heutiger Arbeitswelten an. Der Neurobiologe Gerald Hüther spricht von der neuen Volkskrankheit "Einsamkeit", sein Kollege Joachim Bauer von einer häufig überschrittenen "Schmerzgrenze" in Bezug auf Selbstverleugnung und Entfremdung. Der Sager des österreichischen Bundeskanzlers über Mindestsicherungsbezieher, die in der Früh ihre Kinder allein aufstehen lassen und einfach weiterschlafen, mag seine Wirkung aus verdrängten Aggressionen jener speisen, die jeden Tag früh aufstehen (müssen) und nicht daran denken, dies zu hinterfragen. Damit hängt zusammen, dass Menschen oft lieber nach unten treten als sich gegen Mächtigere aufzulehnen. Manche -etwa der Ökonom Stephan Schulmeister -sehen hier Versäumnisse in der Aufklärungsarbeit, die es früher in der Arbeiterbewegung gegeben habe, und führen eine Ideologie der Entsolidarisierung ins Treffen. Andere meinen, dass alte Wertegemeinschaften wie Religionen oder eben die Arbeiterbewegung an Bindekraft eingebüßt haben, und die rechten Bewegungen mit vereinfachenden Botschaften in dieses Wertevakuum stoßen.

Es gibt Versuche, Menschen mit "linkem Populismus" (Chantal Mouffe) für eine emanzipatorische Bewegung zu mobilisieren und die Wut und Empörung weg von den Schwächsten auf Reiche und Mächtige zu lenken. Etwa wenn sogenannten "Wirtschaftsflüchtlingen" die reichen "Steuerflüchtlinge" gegenübergestellt werden. Gefordert wird Bewusstseinsbildung und ein Pochen darauf, das Erwirtschaftete fair zu verteilen. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin belegt, dass die AfD in jenen Regionen am erfolgreichsten ist, wo die Kräfte der (ehemaligen) Mitte dem rechten Diskurs nachgegeben haben. Dagegenhalten wäre demnach die klügere Strategie.

Rechte und Pflichten

Die Statistiken über die immer ungleicher werdende Vermögens-und Einkommensverteilung sind mittlerweile in allen (bürgerlichen) Medien nachzulesen. Neue linke Bewegungen formieren sich in den USA ebenso wie in Europa. In Umfragen treten immer mehr Bürgerinnen und Bürger für eine Umverteilung großer Vermögen ein. Ein politischer Umschwung ist also durchaus denkbar. Um das Auseinanderdriften von Arm und Reich zu erkennen, braucht es kein Wirtschaftsstudium. Es geht darum, welche Erzählungen sich öffentlich Gehör verschaffen -die völkisch-nationalistischen der Rechten oder jene, die auf Solidarität und einem neuen Klassenbewusstsein beruhen. Soziale Bindekräfte von der Familie über die Integration in die Arbeitswelt sowie in Vereine bis hin zur Verbundenheit mit dem Ort, an dem man lebt, sind zu stärken. Ein moderner Patriotismus soll rückwärtsgewandten Nationalismus überwinden, fordert der Ökonom Paul Collier. Wir brauchen Narrative von einem guten Leben jenseits neuer Konsumund Wachstumsversprechen. Konzepte resilienter, krisenfester Marktwirtschaften mit einem geordneten Finanzsektor sowie einer stärkeren regionalen Ausrichtung der Wirtschaftskreisläufe sind gefragt. Ernährungs-und Energiesouveränität stehen dafür ebenso wie neue Möglichkeiten lokalen Produzierens mittels digitaler Technik.

In einem Gemeinwesen gibt es nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, etwa jene, seinem Einkommen und Vermögen gemäß Steuern zu zahlen. Die Verteilungsdebatte ist aus ethisch-moralischer Sicht geboten, aber auch aus systemischen Gründen. Die Politik der öffentlichen Verschuldung schiebt die Probleme ebenso lediglich hinaus wie jene des billigen Geldes, das nicht in die Realwirtschaft fließt, sondern zur weiteren Aufblähung des Vermögens-und Finanzsektors führt. Wolfgang Streeck spricht von einer "vertagten Krise". Der nächste Absturz stehe bevor und werde schlimmer ausfallen als jener von 2008. In diesem Sinne erfordert das Gebot der Klugheit, auch im Sinne der Vermögenden, den Wachstumszwang zu überwinden und den sozialen Ausgleich durch Umverteilung einzuleiten. Damit sich Leistung auch für die unteren Einkommensbezieherinnen und -bezieher wieder lohnt und eine Kultur der Inklusion Platz greift.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und pädagogischer Leiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung