"Populistischer Wildwuchs"

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Die Furche: Die Begriffe Bürger- und Zivilgesellschaft geistern durch zahlreiche politische Diskussionen. Haben beide dieselbe Bedeutung?

Konrad Paul Liessmann: Zivilgesellschaft hat einen anderen Klang als Bürgergesellschaft. Bei Zivilgesellschaft denkt man an Zivilcourage, an mutige Aktionen gegen Rassismus und Transit. Das sind politisch motivierte Aktionen, die den Parlamentarismus ergänzen durch Artikulation der Bürgerinteressen vor Ort. Bürgergesellschaft dagegen hat so einen heimeligen Klang. Das sind Bürger, die sich in Vereinen organisieren, die etwas für die Wohlfahrt tun und schauen, dass die Kinder nicht rauschgiftsüchtig werden, sondern Golf spielen. Beiden Konzepten gemeinsam ist aber das Misstrauen in die Fähigkeit des Staates, die Anliegen der Bürger zu organisieren.

Die Furche: Die ÖVP betont immer wieder die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Sehen Sie eine solche Verantwortung?

Liessmann: Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Zumindest die Eckpunkte der Politik werden also nicht vor Ort durch Bürgerbeteiligung erledigt, sondern durch Delegation an repräsentative Organe. Ich bin ein Verfechter des Parlamentarismus, weil er auf der einen Seite genug demokratische Kontrolle ermöglicht, auf der anderen Seite aber auch stabile Verhältnisse. Aber natürlich kann eine Staatsverfassung nur ein formaler Rahmen sein. In der Frage, wie sich eine Gesellschaft im Detail organisiert, sollte der Staat nicht viel hineinreden, weil für mich die Freiheit des Individuums eine entscheidende Rolle spielt. Auf der anderen Seite kann eine ganze Reihe von sozialen Problemen durch die Aktion von Individuen nicht gelöst werden. Da haben wir den Sozialstaat erfunden und bestimmte Verantwortungen an die Gesellschaft delegiert, weil sich Ungerechtigkeiten gezeigt haben. Man soll nicht jetzt wieder so tun, als könne eine liberalisierte Bürgergesellschaft alles übernehmen, was bisher staatliche Sozialpolitik war.

Die Furche: Welche Verantwortung hat der Staat Ihrer Ansicht nach gegenüber dem Einzelnen?

Liessmann: Inhalt des Sozialstaates ist ja, dass jeder Bürger etwas tut - er zahlt Steuern. Und mit diesen Steuern organisiert der Staat von oben die Befriedigung sozialer Bedürfnisse wie etwa Kindererziehung oder Altenbetreuung. Das Gegenkonzept wäre, dass das die Bürger in kleinen Gemeinschaften selber organisieren. Dann müsste es aber radikale Steuersenkungen geben.

Die Furche: Also wäre eine Stärkung der Bürgergesellschaft denkbar?

Liessmann: Ich bin sofort für das Konzept der Bürgergesellschaft, wenn man mir vorrechnet, dass alles, was vorher der Staat gemacht hat und jetzt die Bürger selber machen, durch entsprechende Steuersenkungen ausgeglichen wird. Aber kassieren und im Gegenzug nichts anbieten, das geht nicht.

Allerdings geht die Vorstellung der Bürgergesellschaft ja von stabilen sozialen Einheiten wie Familie und Nachbarschaft aus. Gleichzeitig singen alle das Lied der Flexibilität und Mobilität. Es kann nicht gelingen, auch nur mittelfristig Nachbarschaftshilfen zu organisieren, wenn man damit rechnen muss, dass jeder der Beteiligten im nächsten halben Jahr seinen Job verliert oder mobil, wie er ist, in Singapur landet.

Letztlich geht es aber gar nicht um die Frage nach Bürgergesellschaft versus Sozialstaat, sondern um das richtige Maßverhältnis. Grundbedürfnisse wie Wasser, Gesundheit, Verkehr, Energie und Telekommunikation müssen so geregelt sein, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, daran zu partizipieren, auch wenn er alt oder einkommenslos ist. Privatisieren heißt, öffentliche Angelegenheiten privaten Interessen zu überantworten. Das geht nur in Bereichen, die für das Gemeinwesen keine substanzielle Bedeutung haben. Keine Frage, der Staat kann nicht alles, und wir brauchen diese korrigierenden, gestaltenden, auf die Initiative von Bürgern zurückgehenden Aktivitäten, aber gleichzeitig braucht alles, was substanziell das Gemeinwesen betrifft, geregelte Verfahren, Institutionen und institutionalisierte Kontrollen. Sonst haben wir populistischen Wildwuchs.

Die Furche: Wie sehen Sie dieses Maßverhältnis zwischen staatlicher und persönlicher Verantwortung derzeit verwirklicht?

Liessmann: Wir haben so viel Staatseinfluss wie noch nie, vor allem durch die EU-Administration, die zum Beispiel sagt, wo wie viele Lkw durchfahren dürfen - das absolute Gegenteil der Bürgergesellschaft. Da zeigt sich genau: Wo es um substanzielle politische und ökonomische Interessen geht, besteht überhaupt keine Bereitschaft Staatsmacht zurückzunehmen. Ich habe den leisen Verdacht, dass die Politik nur überall dort die Bürgergesellschaft anruft, wo sie sich selbst entlasten und ökonomische Kosten auf den Einzelnen abwälzen will.

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